Sie haben gerade im Flugzeug etwas geschlafen, zum ersten Mal seit 2321 Tagen wieder in einem richtigen Bett.
Nein, mein Liegebett habe ich meinen Kindern überlassen und mich einfach auf einen Sitz gehauen. Unbeschreiblich - der einfache Flugzeugsitz war zehntausendmal bequemer als alles, was ich in mehr als sechs Jahren Dschungel erlebt habe.
Während sich unsere Welt weiterentwickelte, kommen Sie jetzt praktisch aus der Steinzeit. Was überrascht Sie am meisten?
All die kleinen Handys, die vibrieren und Fotos machen. Ich glaube, in puncto Technologie habe ich jetzt viel nachzuholen (lächelt). Es ist schwer, sich an die Steinzeit zu gewöhnen, die Rückkehr in die Zivilisation ist dagegen viel leichter.
Geiseln, die vor Ihnen freikamen, haben voller Bewunderung von Ihrem Widerstand gegen die Entführer gesprochen. Ging es Ihnen dabei um Ihre Würde, oder waren Sie einfach wütend?
So bin ich eben. Ich komme aus einer Familie, wo Respekt vor dem anderen fundamental ist. Die Farc behandelte mich als Feindin. Ohne die kleinste Geste des Mitleids. Ohne jedes Minimum an Respekt. Ich war Symbol für alles, was sie hassten. Eine Französin, die zugleich Kolumbianerin ist und in einer Welt lebt, die ihnen verschlossen ist. Eine Fremdsprache spricht. Auf der Universität war. Und dann war ich auch noch eine Frau.
Was hat Sie besonders gekränkt?
Die permanenten Erniedrigungen. Alles muss bewilligt werden. Du willst zur Toilette - also bitte um Erlaubnis. Du willst mit einem Aufseher sprechen - bitte um Erlaubnis. Das gilt auch für Gespräche mit anderen Geiseln. Radio hören - wo ist die Erlaubnis? Du willst eine Zahnbürste, Zahnpasta, Seife - alles muss verhandelt werden. Wenn sie spüren, dass du Widerstand leistest, kriegst du gar nichts. Der Guerillakämpfer ist der Chef. Er allein kann dir geben, was du brauchst. Und du brauchst alles. Nadel, Faden, Pflaster. Sieben Jahre lang hat man mir alles Mögliche vorenthalten.
Der schlimmste Moment?
(Langes Schweigen) Als ich vorige Woche endlich frei war, sah ich vom Helikopter hinunter auf den dichten Dschungel und sagte mir, all dieser Horror (bricht in Tränen aus), all das ist da unten geblieben. Darüber spreche ich nicht mehr.
Fünfmal sind Sie aus dem Camp ausgebrochen und immer wieder eingefangen worden. Sind Sie danach bestraft worden?
Es war schrecklich. Nach dem letzten Fluchtversuch, der eine Woche dauerte, wurde ich drei Tage lang mit einer Kette um den Hals stehend an einen Baum gebunden.
Einer Ihrer schlimmsten Peiniger hieß Enrique …
… auch Gafas ("die Brille") genannt, ein Künstler der Grausamkeit, dessen ganze Intelligenz allein dem Bösen diente; dabei konnte er auch charmant sein, wenn er zum Beispiel irgendeine Information wollte. Manchmal dachte ich, dass der Teufel im kolumbianischen Dschungel wohnt. Als Geiseln mussten wir uns irgendwie am Leben erhalten (weint). Ich habe dreimal am Tag gebetet.
Jahrelang wurden Sie mit anderen Gefangenen von den Farc-Leuten durch den Dschungel getrieben, immer auf der Flucht vor dem kolumbianischen Militär.
Wir hatten Zelte dabei, Hängematten, Moskitonetze, Isomatten, und jeder hatte ein Handtuch. Pro Monat gab es ein Stück Seife zum Waschen der Klamotten, der Haare und des Körpers. Man musste sparsam umgehen mit der Seife, oft haben wir die Kleider nicht mehr gewaschen, um uns selbst einigermaßen sauber zu halten. Auch Talkum-Puder haben wir bekommen, unerlässlich im Dschungel, denn aufgrund der hohen Feuchtigkeit im tropischen Regenwald hatten alle dauernd Fußpilz. Geholfen hat dieser Puder freilich so gut wie nie. Fußpilz im Dschungel, das ist der reine Horror. Gestern habe ich mich zum ersten Mal seit über sechs Jahren einen ganzen Tag lang nicht gekratzt.
Unglaublich, der Horror des Banalen …
… ich litt auch an chronischem Durchfall und Malaria.
Bekamen Sie Medikamente?
Ja, aber schlechte. Einmal bekam ich ein Mittel, das mich mehr mitnahm als die Malaria selbst und meine Leber schädigte. Aber es gab ein Wunder: Als es mir mit einer Gelbsucht ganz mies ging im Herbst vorigen Jahres, war ich in einem Camp mit William Pérez, dem einzigen Krankenpfleger unter den Geiseln. Ich glaube, ich war damals dem Tode sehr nahe. William sagte: "In einem normalen Hospital würdest du binnen einer Viertelstunde wieder wohlauf sein, aber hier stirbst du womöglich. Du bist total dehydriert."
Wollten Sie sterben, um dem Leiden ein Ende zu setzen?
An einem bestimmten Punkt war ich nicht mehr Herr meiner selbst, hatte einfach keine Kraft mehr. Alles tat mir weh. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, lag in meiner Hängematte und kam nicht mehr hoch. Meine Kameraden mussten mich tragen. Ich wusste, dass es schlimm um mich stand. Einer von uns ist auf diese Weise gestorben. Sie haben einfach ein Loch gegraben …
Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Kilometer Sie in diesen Jahren der schier ewigen Flucht durch die Wildnis zurückgelegt haben?
Ich habe eine Art Weltreise durch den Dschungel hinter mir. Es waren Tausende von Kilometern, das war sehr hart.
Wegen der Tiere?
Die großen, wie Ozelot und Puma, machen einem Angst, verhalten sich aber eher freundlich. Wirklich gefährlich sind die Schlangen. Meine Kameraden hatten große Angst vor ihnen, mich faszinierten sie. Ich fasste sie gern an, das ist vielleicht meine Art, die Angst vor dem Tod zu bekämpfen.
Mussten Sie auch Schlangen essen?
Ja. Nur Affenfleisch habe ich abgelehnt.
Warum?
Im ersten Jahr nach meiner Entführung hatten die Kidnapper eine Affenmutter getötet, um das Baby aufzuziehen. Ich pflegte das Kleine, es hieß "Cristina". Die Guerilleros stutzten ihre Haare im militärischen Bürstenschnitt und waren davon besessen, sie jeden Tag in ein Seifenbad zu tauchen. Eine Tortur für das arme Tier. Ich versuchte, sie von dieser täglichen Baderei abzubringen, und Cristina spürte wohl, dass ich sie beschützte. Eines Tages war das Affenbaby verschwunden, angeblich hatten sie es freigelassen. Ich machte mir schon Sorgen, da erklärte mir einer der Typen: "Cristina leidet nicht mehr, sie ist tot." Der Kommandant, er hieß Andrés, hatte sie seinen beiden Hunden zum Fraß vorgeworfen.
Woher nahmen Sie die Kraft, dies alles zu überstehen?
Von Gott. Der Glaube an Gott ist da das Einzige, was einen davon abhält, seine Würde zu verlieren. Wenn du die spirituelle Kraft hast, hältst du deinen Verstand unter Kontrolle.
Hatten Sie überhaupt Kontakt zur Außenwelt?
Über das Radio hat meine Mutter all die Jahre zu mir gesprochen. Sie begann ihre Botschaften immer mit dem gleichen Satz: "Ich weiß nicht, ob du mir zuhörst, ich kann es nur hoffen." Die Mitgefangenen machten sich über mich lustig, aber wir waren alle mit unseren Radios beschäftigt und versuchten Nachrichten von unseren Familien zu bekommen. Mama begann zu sprechen, und ich tat so, als würde ich ihr antworten. Sie sagte mir: "Ich hoffe, es geht dir gut und dir ist nicht kalt." Und ich antwortete: "Doch Mama, mir ist kalt, sehr kalt, ich friere."
Mehrfach wurde Ihr Tod im Radio gemeldet.
Das war bizarr. Ich sagte mir immer: "Mein Gott, gib meiner Familie zu verstehen, dass nicht ich leiden muss, sondern sie." Ich konnte im Dschungel irgendwie alles aushalten, aber das Leiden meiner Familie war für mich unerträglich. Wenn Mama im Radio weinte und ihre Stimme zitterte, wurde ich wütend. Ich wollte, dass sie stark ist, damit ich stark sein konnte.
Welche Radionachrichten haben Sie während Ihrer langen Gefangenschaft besonders bewegt?
Die Fußball-WM vor zwei Jahren. Ich habe geheult, als Frankreich verlor.
Wegen des Kopfstoßes von Zinedine Zidane?
Den habe ich geliebt. Ich hätte das ganz genauso gemacht. Alle, die ihn kritisiert haben, waren mir unsympathisch. Die WM hat uns Gefangene gegeneinander aufgebracht. Da gab es die "Pro-Ingrid"-Fraktion, die für Frankreich war, und die "Partisanen" Italiens.
Und welche politischen Nachrichten waren für Sie die aufregendsten?
Der Irak-Krieg natürlich. Und die Rede des (damaligen französischen) Außenministers Dominique de Villepin vor den Vereinten Nationen in New York. Formidable. Bravo. Ich habe geheult.
Sie hören im tiefen Dschungel Nachrichten aus Sport und Politik, ist das nicht surreal?
Ja, aber ich habe Lücken. Über manche Themen weiß ich Bescheid, aber über andere nicht. Weil es zum Beispiel gerade keine Batterien gab, weil wir marschierten oder weil der Empfang zu schlecht war. So habe ich erst mit zwei Jahren Verspätung gehört, dass meine Schwester Astrid von Kolumbien nach Frankreich gezogen war.
Sie haben Ihrer Mutter im vergangenen Jahr geschrieben, Sie seien unfähig gewesen, während der Gefangenschaft an Ihre Kinder Lorenzo und Mélanie zu denken. War das eine Art Selbstschutz?
Ja, ich konnte sie mir nicht vergegenwärtigen, ohne zu weinen. Ich hatte meinen Vater in dieser Zeit verloren und fühlte mich schuldig, dachte immer, er sei wegen meiner Entführung gestorben. Die Umstände, unter denen ich von seinem Tod erfahren habe, waren schrecklich: Eines Tages brachte man uns Gemüse - Kohlköpfe, eingewickelt in Zeitungspapier. Ich nahm die Blätter und freute mich, endlich mal wieder etwas zu lesen zu haben. Da sah ich das Foto eines Priesters, umgeben von Fernsehkameras vor einem Sarg. Beim Lesen der Bildunterschrift wurde mir klar, dass dies die Beerdigung meines Vaters war.
Voriges Jahr schrieben Sie einen Brief an Ihre Mutter mit einem Videoband, auf dem Sie stark niedergeschlagen aussahen; viele befürchteten damals das Schlimmste. Aus heutiger Sicht eine meisterhafte Selbstinszenierung.
Das ist mein Beruf. Kommunikation, Inszenierungen. Ich wusste genau, dass die Farc der Welt das Bild einer gesunden, fröhlichen und ruhigen Ingrid präsentieren wollte. Das habe ich abgelehnt. Dennoch haben sie die Kamera angestellt und zu drehen begonnen. Weil ich mich auf dieses Spiel nicht einlassen wollte, habe ich mir gesagt: "Ich schaue einfach nicht hin."
Ihre Show war sehr gelungen.
So sehr, dass die Farc diesen Überlebensbeweis nicht veröffentlichen wollte. Wäre das Video nicht den kolumbianischen Diensten in die Hände gefallen, hätte es nie jemand zu sehen bekommen.
Im kolumbianischen Wahlkampf 2002 haben Sie sich in hochgefährliche Dschungelregionen gewagt. War das nicht leichtsinnig?
Wieso? Alles war damals in Kolumbien risikoreich, vor allem in der Politik. Vor meiner Entführung war ich zweimal in dem Gebiet unterwegs - ohne Zwischenfälle.
Die Region galt als heiße Bürgerkriegszone.
Das kann man so nicht sagen. Die Regierung hatte versprochen, die Region innerhalb von 48 Stunden zu befrieden. Der damalige Präsident hat dort Wahlreden gehalten, wollte aber nicht, dass ich dort auftrat. Das habe ich mir nicht gefallen lassen.
Es gibt Unklarheiten darüber, wie Ihre Befreiung zustande kam. Wurden die Farc-Kommandanten überwältigt oder gekauft?
Ich weiß es nicht. Gafas war jedenfalls nicht im Bilde. Sein Gesichtsausdruck im Moment seiner Festnahme will mir nicht aus dem Kopf gehen. Auf seinem Antlitz standen Scham, Hass und Schrecken.
Gab es Reaktionen aus Deutschland auf Ihre Befreiung?
Nein, aber ich weiß, dass auch in Deutschland viele Menschen für meine Befreiung eingetreten sind.
Wie kommen Sie zu Ihrem deutsch klingenden Vornamen?
Einige meiner Vorfahren kamen vor Jahrhunderten aus dem hohen Norden. Mein Vater wollte, dass meine Schwester Astrid und ich dieses Erbe weitertragen. Mir hat mein Name immer gefallen.
In den letzten Tagen hetzen Sie von Termin zu Termin. Wird Ihnen das nicht zu viel?
Nein, die Menschen haben sich jahrelang für mich eingesetzt, und nun möchte ich ihnen etwas zurückgeben.
Im Moment wirken Sie sehr euphorisch. Haben Sie keine Angst, in ein Loch zu fallen, wenn der ganze Rummel vorbei ist?
Bestimmt kommt dieser Moment, aber dann werde ich nicht in einen Abgrund stürzen, sondern in die Arme meiner Kinder.
Interview: Michel Peyrard, "Paris Match", und Tilman Müller, stern