Kaschmir-Erdbeben Balakot hat keine Zukunft mehr

Zehntausende Tote, Millionen Obdachlose, völlig zerstörte Städte: Ein Jahr ist es her, dass die Erde in Kaschmir bebte. Während der Wiederaufbau in manchen Teilen gut vorankommt, hat die Regierung die am schwersten betroffene Stadt Balakot aufgegeben.

Die meterhohe Steintafel ist zertrümmert, ihre Überreste scheinen sich an den halb abgerutschten Hang neben der Straße zu klammern. "Wir beherrschen die Berge" hatten die stolzen Straßenbauer in den Stein gemeißelt, als die Verbindung vom pakistanischen Balakot ins Gebirge fertig war. Vor einem Jahr hat die Natur bewiesen, dass niemand sie beherrschen kann. Am 8. Oktober vergangenen Jahres bebte hier die Erde so stark wie hundert Jahre lang zuvor nicht mehr. Danach lag Balakot in Trümmern. Die Überlebenden haben sich mühsam wieder aufgerafft - trotzdem hat Balakot keine Zukunft mehr.

Rund 86.000 Einwohner zählte Balakot bis zu jenem verheerenden Samstag im vorigen Jahr, als am Morgen die Erde bebte. Danach war nichts mehr wie früher. Die Stadt - von allen in Pakistan am schwersten betroffen - bot einen unfassbaren Anblick: Kein Haus war unbeschädigt geblieben, die meisten waren völlig zerstört worden. Überall lagen Berge von Schutt, unter denen tausende Leichen begraben waren. Nach Schätzungen überlebte nicht einmal jeder zweite Bewohner von Balakot das schwere Beben.

Was fehlt, sind Häuser

Die Menschen haben sich vom Schock erholt, so gut es möglich war, und ihr Leben neu begonnen. Vom Krankenhaus am Ortseingang, das mit privaten Spendengeldern gebaut wurde, bis zur Brücke über den reißenden Kunhar-Fluss im Zentrum sind alle Trümmer weggeräumt. Geschäftsleute haben provisorische Buden eröffnet. Die Händler bieten Obst und Gemüse an, Zigaretten und Süßigkeiten, Schmuck und Tücher - fast wie früher. Was fehlt, sind Häuser. Während anderswo im Katastrophengebiet der Wiederaufbau zügig voranschreitet, findet er in Balakot schlicht nicht statt.

Balakot, so hat die Regierung in Islamabad beschlossen, soll nie wieder neu entstehen. Grund dafür sind drei nach dem Beben entdeckte aktive Erdbebenspalten, die direkt unter dem Stadtgebiet verlaufen. "Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es hier wieder zu einem schweren Beben kommen", sagt Shazia Haris von der staatlichen Wiederaufbaubehörde ERRA. "Den Wiederaufbau zu bezahlen, wäre rausgeschmissenes Geld." Die 30.000 Bewohner Balakots sollen daher in eine neue Stadt bei Bakrial rund 20 Kilometer Luftlinie entfernt umgesiedelt werden. Der Haken dabei: Der Bau der neuen Stadt aus dem Nichts heraus wird Jahre dauern.

Die Wiederaufbaubehörde ERRA rechnet mit zwei Jahren, die Vereinten Nationen würden schon eine Bauzeit von unter fünf Jahren für "einen großen Erfolg" halten. Für die Menschen in Balakot bedeutet das Jahre des Leidens. UN-Repräsentant Jan Vandemoortele sagt, sie stünden im "Epizentrum der Erdbebenfolgen". Die Regierung steckt wegen der geplanten Umsiedlung kein Geld in den Wiederaufbau der Infrastruktur. Hilfsorganisationen wagen nicht, in Balakot Häuser zu bauen, weil sie nicht wissen, wie lange die Stadt noch eine Zukunft hat.

Von der Regierung im Stich gelassen

Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit in Balakot - die Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Etliche von ihnen hausen immer noch in Zelten, kaum jemand glaubt daran, dass sich das bald ändert. Da kaum jemand Arbeit hat in Balakot, können sich die meisten Menschen nicht aus eigener Kraft helfen. "Wir haben überhaupt kein Vertrauen, dass die Regierung die Pläne in Bakrial verwirklicht", sagt der 32-jährige Lehrer Mohammad Tufail. "Die ERRA hat bislang versagt, und sie wird wieder versagen."

UN-Repräsentant Vandemoortele hat Verständnis für den Frust der Betroffenen. Wer in einer Notlage sei, dem erscheine Hilfe immer zu langsam, sagt er. Trotzdem wirbt er um Verständnis: Die Ausmaße des Bebens seien schier unvorstellbar gewesen. Wenn auch die Umsiedlung der Menschen von Balakot "kein Spaziergang" werde, so gewinne der Wiederaufbau in Pakistan insgesamt doch an Fahrt. "Ich komme aus einer Gegend von der Größe des Erdbebengebiets", sagt der Belgier. "Ich weiß nicht, wie wir mit der Katastrophe fertig geworden wären."

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Can Merey/DPA