Last Call Wären Sie ein guter Engländer?

In Großbritannien wird zur Zeit intensiv darüber diskutiert, was es eigentlich bedeutet, britisch zu sein. Klingt erst mal lustig, ist aber gar nicht so lustig. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Die Diskussion hat natürlich einen aktuellen und ernsten Hintergrund. Vor wenigen Tagen kam ein Bericht des Bildungsministeriums heraus. Aus diesem Bericht ging hervor, dass Islamisten britische Schulen vor allem in Birmingham systematisch unterwanderten. Dieser Skandal trägt den Titel „Trojan Horse“. Man muss sich das so vorstellen: Islamisten in Gestalt von Lehrern und Schuldirektoren übernahmen die Macht an mindestens fünf Schulen und indoktrinierten Schüler, größtenteils muslimischer Herkunft. Christliche Feiertage wurden nur dann und auch nur vorgeblich gefeiert, wenn Schulinspektoren kamen und ihr Kommen auch noch angekündigt hatten. Wenn keine Inspektoren da waren, saßen Jungen und Mädchen voneinander getrennt. Nicht-muslimische Frauen wurden offenbar als Prostituierte beschimpft, es war viel von Höllenfeuer die Rede und relativ wenig von Guy Fawkes. In dem Bericht steht, es habe ein ganz und gar ungutes Klima der Angst und der religiösen Einschüchterung geherrscht. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass an diesen Lehranstalten lauter kleine Terroristen herangezogen würden, so las sich das.

Die Schulen verstehen die Vorwürfe natürlich nicht und verweisen darauf, dass sie bis vor kurzem noch von den Behörden als „outstanding“, herausragend, eingestuft worden waren. Nun sollen sie plötzlich britische Zweigstellen des Heiligen Krieges sein. Das ist tatsächlich schon etwas verwirrend.

Der Bildungsminister Michael Gove hat jedenfalls den Schulen Besserung auferlegt und ein für alle mal erklärt, dass auch an vornehmlich muslimischen Schulen britische Werte vermittelt werden müssten. British Values. Darum geht es nun: Was ist das genau, verlässliche britische Werte?

Tee?

Humor?

Fish and Chips?

Die Königin?

James Bond?

Elfmeter verschießen?

Oder doch die Magna Carta, die Premier David Cameron als die Mutter aller Werte verehrt?

Neulich waren wir bei einer Veranstaltung mit Kate Fox. Sie ist Anthropologin und erfolgreiche Autorin des nationalen Bestsellers „Watching the English“, mithin eine Art Gralshüterin englischer/britischer Werte und Eigenschaften. Mrs Fox hat ihr Buch neu aufgelegt und um stattliche 150 Seiten erweitert mit allerlei neuen Forschungsergebnissen. Sie sagte, dass sie selbst ein bisschen geforscht habe auf dem Weg zur Arbeit und dass es keinesfalls ein Klischee sei, dass sich Briten, wenn sie angerempelt werden, beim Rempler mit dem klassischen „Oh, sorry“ noch entschuldigen. Die zierliche Mrs Fox hat zu diesem Zweck immer mal wieder gerempelt und offenkundig eine Strichliste mit „Oh, sorry“ geführt. Wir versuchten uns vorzustellen, wie ein ähnlicher Feldversuch wohl in deutschen Bussen oder U-Bahnen ausgefallen wäre. Und brachen die Vorstellung lieber ab.

Höflichkeit ist auf jeden Fall so ein britischer Wert.

Des weiteren hat Kate Fox schon vor zehn Jahren und auch jetzt wieder beobachtet, dass man als Brite Blickkontakt nach Kräften vermeidet, weil Blickkontakt in Bahn und Bus schlimmstenfalls zu Konversation führen könnte, was sehr unbritisch wäre. Zurückhaltung ist auch so ein britischer Wert.

Beide Werte, Höflichkeit und Zurückhaltung, gelten aber ausdrücklich nicht für die britische Erfindung der Hooligans. Darauf legen alle Wert.

Die ganze Werte-Debatte kommt vielleicht auch zu einem für Engländer etwas ungünstigen Zeitpunkt – pünktlich zur Fußball-WM. Denn nie waren die Briten weniger stolz darauf, Briten zu sein als in der Gegenwart. Lediglich ein Drittel der Briten sind darauf noch sehr stolz, vor zehn Jahren waren es noch 43 Prozent. Und die stolzesten Briten sind ausgerechnet die Schotten, die so stolz sind, dass sie sich vielleicht im September vom Königreich abspalten und damit den Durchschnittsstolz weiter senken. Die jährliche Erhebung, „British Social Attitudes Survey“, gibt es seit 1893. Man muss leider von einem historischen Tiefstand sprechen. Immerhin, größter gemeinsamer Nenner aller Insulaner bei Personen: Die Königin und ihr Mann auf den Plätzen eins und zwei. Auch vertreten: Richard Branson, David Beckham, Helen Mirren. Und mit erstaunlichen 9 Prozent und damit vor Hugh Grant, Kate Moss und Salman Rushdie: „Don’t know“.

Ansonsten definiert man sich noch über Links fahren, Doppeldecker, Wetter, Pubs, Bier und BBC und Cricket.

Aber Werte? Anstand, Moral, Toleranz – solche Dinge? Nothing.

Die Boulevardzeitung „Sun“ konnte diese ganze Diskussion natürlich nicht unwidersprochen hinnehmen und verteilte am Tag der WM-Eröffnung eine 24-seitige „historische Edition“ zum Thema nationaler Stolz an 22 Millionen Haushalte. Darin erzählen ganz viele Menschen, dass England das tollste Land der Welt ist. Die Kollegen haben auch eine kleine Hitliste mit den wichtigsten englischen Erfindungen erstellt, von denen meines Erachtens die Toilettenspülung die mit Abstand wichtigste ist. Hooligans tauchen darin im Übrigen nicht auf. Außerdem steht in der Beilage, dass die Deutschen zwar ärgerlich gut Fußball spielen, aber wohl nicht Weltmeister würden, weil es ihnen in Brasilien ein bisschen zu warm sei. Es war eine „lauter-gute-Nachrichten-Ausgabe“ für die Werte-geplagte Nation.

Es kann also nur besser werden. Und es wird besser.

Denn zu den unumstößlichen Errungen- und Eigenschaften Britanniens gehört neben Humor, Höflichkeit und Zurückhaltung auch die legendäre Zuversicht – „Keep calm and carry on“ – gestählt und getrimmt im Zweiten Weltkrieg. Und schwupps schimmert Hoffnung am Horizont. Schon im Jahre 2050 besteht fast ein Drittel der englischen Bevölkerung aus ethnischen Minderheiten. Also aus Indern, Pakistani, Afrikanern und vielen Bangladeschis. Vor allem Bangladeschis sind bereits jetzt sehr stolz, Briten zu sein. Stolzer als die eingeborenen Briten. Das ist ganz toll und vorbildlich und relativiert unbedingt den Erfolg der Immigrantenverweigerungspartei UKIP. Die wird im Jahre 2050 entweder verschwunden sein. Oder wenigstens unterwandert von Schwarzafrikanern. Deckname: „Trojan Horse“. Teil zwei.