Mitte August reiste Chinas Außenminister Li Shangfu nach Russland zur einer Sicherheitskonferenz. Bei einem anschließenden Besuch in Minsk ließ er sich mit dem belarussischen Machthaber Lukaschenko ablichten. Am 29. August sprach der Militärführer bei einem Sicherheitsforum afrikanischer Staaten in Peking. Danach verschwand das Gesicht der chinesischen Armee von der Bildfläche. Ein Treffen im September mit seinem vietnamesischen Amtskollegen sagte das Ministerium ab und begründete dies mit dem Gesundheitszustand Lis.
Seit zwei Wochen fehlt von ihm nun jede Spur. Nach Recherchen der "Financial Times" und der Nachrichtenagentur Reuters wurde Li wegen Korruption aus dem Verkehr gezogen. Die Behörden ermitteln gegen den chinesischen Verteidigungsminister, berichten die Medien unter Berufung auf zehn Personen, die mit dem Fall vertraut sein sollen. Laut einem regionalen Sicherheitsbeamten soll sich Li mit der Beschaffung von Militärausrüstung bei der Führung in Peking unbeliebt gemacht. Gegen acht weitere hochrangige Beamte der Beschaffungsabteilung, die Li von 2017 bis 2022 leitete, werde ebenfalls ermittelt. Was Li genau falsch gemacht hat und um welche Militärausrüstung es sich handelt, bleibt allerdings unklar.
Er wäre zumindest nicht der erste, der so einfach von seinem Posten verschwindet. Erst Ende Juli war Chinas Außenminister Qin Gang des Amtes enthoben worden, nachdem er wochenlang aus der Öffentlichkeit entschwunden war. Gleichzeitig tauschte Peking zwei Generäle der Raketenstreitkräfte aus, in deren Zuständigkeitsbereich auch das Atomwaffenarsenal des Landes fällt.
Fällt Li in Xis Kampf gegen Korruption?
Dass hochrangige chinesische Beamte wegen Korruption entlassen werden, halten Analysten nicht für ungewöhnlich – dass nun mit Qin und Li zwei Kabinettsmitglieder einfach so verschwinden, aber schon. Zumal beide Politiker von Präsident Xi auf die jeweiligen Posten gesetzt wurden. "Es gibt Spekulationen, dass sich seine wichtigsten Helfer nicht ausreichend auf seine Seite schlagen, so dass er dies [die Razzien] wahrscheinlich dazu nutzt, die Loyalität zu seiner Führung weiter zu stärken. Nicht nur von der zivilen, sondern auch von der militärischen Seite", sagt Yu Ping, ein China-Experte und ehemaliger Mitarbeiter des US-Asia Law Institute der NYU der "Financial Times".
Li war 1980 in die Kommunistische Partei und zwei Jahre später in die Armee eingetreten. 2016 wurde er zum stellvertretenden Kommandeur der damals neuen Strategischen Unterstützungstruppe des Militärs ernannt. Die Eliteeinheit sollte die chinesischen Fähigkeiten zur Weltraum- und Cyber-Kriegsführung beschleunigen. Ein Jahr später leitete Li die militärische Beschaffungsabteilung, ehe er im März 2023 vom chinesischen Machthaber Xi Jinping persönlich zum Verteidigungsminister ernannt wurde.
Das Vertrauen währte kurz: Vier Monate später rief das Ministerium öffentlich dazu auf, Unregelmäßigkeiten aus Lis Beschaffungsbeamter zu melden. Jetzt ist der Verteidigungsminister verschwunden.
Ob Li jemals wieder in seinem Amt auftritt? Fraglich. In Washington ist man sich bereits sicher, dass Li längst von seinen Aufgaben entbunden wurde. Das berichtet zumindest die "Financial Times" und beruft sich mehrere US-Beamte und mit Geheimdienstinformationen vertraute Quellen. Öffentlich äußert sich das Weiße Haus nicht zu der Angelegenheit. Unklar bleibt deshalb auch, warum Washington vermutet, dass Li nicht mehr im Amt sein könnte. Auf der Plattform X, vormals Twitter, erklärte der US-Botschafter in Japan, Rahm Emmanuel, Li stünde unter Hausarrest.
Peking äußert sich derweil schmallippig zum Verbleib des Verteidigungsministers. Eine Sprecherin des Ministeriums sagte der Nachrichtenagentur AFP ihr sei "die angesprochene Situation nicht bekannt".
Xi demonstriert seine Macht
Der Fall Li, sofern die Spekulationen über Korruption und Ermittlungen stimmen, bekräftigt zumindest die Macht der chinesischen Führung. "Wenn die angebliche Säuberung wahr ist, dann lässt das (...) darauf schließen, dass Xi Jinpings Kontrolle über das Militär weiterhin solide ist", so Wen-ti Sung, Politikwissenschaftler an der Australian National University. Um seine Macht zu festigen, könnte Xi solche offensichtlichen Säuberungen häufiger durchführen, befürchten Wissenschaftler. Das könnte dazu führen, dass Mitglieder des chinesischen Machtapparates weiter um die Loyalität zum Staatschef konkurrieren und gleichzeitig die Politik in Peking gefährden.
Die Spannungen zwischen Pekings Spitzenbeamten tut der chinesischen Politik aber nicht unbedingt gut, schreibt Guoguang Wu, Senior Research Scholar am Center on China's Economy and Institutions an der Stanford University in einem in der Zeitschrift "The China Leadership Monitor". Chinas Versuch etwa, ausländische Investoren anzuziehen, scheitere in einigen Fällen an Razzien zur Wahrung der nationalen Sicherheit gegen ausländische Beamte. "Wenn der oberste Führer alles kontrolliert, wird das Regime ironischerweise politisch instabiler und in Bezug auf die Regierungsführung inkonsequenter", schrieb Wu.
Lis Ende könnte Beziehung zu den USA entspannen
Von der Amtsenthebung Lis würde vermutlich aber nicht nur Chinas Machthaber Xi profitieren – sondern auch die USA. Wegen Waffenkäufen bei Russlands größtem Waffenexporteur Rosoboronexport hatte Washington 2018 Sanktionen gegen den chinesischen Verteidigungsminister verhängt. Peking wollte die Gespräche zwischen dem chinesischen und US-Militär fördern, aber nur wenn die Sanktionen gegen Li aufgehoben würden. Ein Treffen mit ihm und seinem US-Kollegen Lloyd Austin hatte die chinesische Führung wegen der Sanktionen bisher verweigert. Gespräche bei einer Verteidigungskonferenz in Singapur im Juni scheiterten.
Wäre Li nicht mehr im Amt, könnten sich die Beziehungen zwischen den Militärs wieder entspannen. Allerdings hängt das von zwei Fragen ab: Kommt Li zurück? Und falls nicht, wer wird sein Nachfolger? Beides ist ungewiss.
Quellen: Reuters, "Financial Times", "The Economist", "The Japan Times", Radio Free Asia, mit Material von AFP