Menschenrechte Die Türkei und ihr "Sevres-Syndrom"

Minderheiten in der Türkei zu benennen oder sogar Rechte für sie einzufordern, galt bisher als Tabu. Ein Bericht, der die bisherige Politik in Frage stellt, hat eine heftige Debatte zwischen Konservativen und Liberalen entfacht.

Niemand weiß genau, wie viele Kurden, (islamische) Alawiten, Juden, armenisch-, syrisch- oder griechisch- orthodoxe Christen es in der Türkei gibt. In offiziellen Statistiken kommen sie nicht vor. Nach dem herrschenden Staatsverständnis, das auf den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk zurückgeführt wird, werden sie alle der "türkischen Nation" zugerechnet. Minderheiten zu benennen oder sogar Rechte für sie einzufordern, galt bisher als Tabu.

Ermutigt von den Riesenschritten, mit denen sich die Türkei mit dem Ziel Vollmitgliedschaft auf die Europäische Union zubewegt, hat sich ein von der Regierung eingesetztes Beratungsgremium daran gemacht, dieses Tabu aufzubrechen und öffentlich Überlegungen zu einem neuen Verständnis von Minderheiten und deren Stellung in Staat und Gesellschaft anzustellen. Eine heftige Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern ist jetzt entbrannt.

Brisanz ungebrochen

"Wer vor fünf Jahren einen solchen Bericht über Minderheiten veröffentlicht hätte, hätte sich auf Prozesse und die Androhung langjähriger Haftstrafen einstellen müssen. Heute wird darüber nur diskutiert, und das ist gut so", frohlockte die liberale Zeitung "Radikal". Wie brisant indes das Thema in der Türkei ist, wurde am Montag auf drastische Weise deutlich, als ein Mitglied dieses Ausschusses den Bericht bei seiner offiziellen Vorstellung kurzerhand in Stücke riss.

Aber was erregt daran dermaßen die Gemüter? Die Verfassung müsse neu geschrieben werden, lautet eine der Schlussfolgerungen. Angehörigen "unterschiedlicher Identität und Kultur" müsse garantiert werden, diese "zu wahren und zu entfalten". Nach Atatürks eigener Forderung einer "zeitgenössischen Zivilisation" sei es an der Zeit, das bestehende rigide Konzept der Staatsbürgerschaft zu überprüfen und das "multikulturelle, demokratische, freie und pluralistische Gesellschaftsmodell Europas" zu übernehmen.

Die unverkennbare Angst vor den Minderheiten, die in konservativen türkischen Kreisen umgeht, lässt sich auf die Formel bringen: Angst vor Schwächung und Spaltung des Landes. Eine Angst, die die Verfasser in ihrem Bericht als "Sevres-Syndrom" bezeichnen - so genannt nach dem Friedensschluss in diesem Pariser Vorort zum Ende des Ersten Weltkrieges, der eine weitgehende Aufteilung des Osmanischen Reiches durch die Siegermächte vorsah und den Atatürk mit seinem Befreiungskrieg revidierte.

Debatte hat erst begonnen

Fast erleichtert hatte die Türkei nach der Veröffentlichung des jüngsten Berichts der EU-Kommission und den darin enthaltenen Feststellungen zu Minderheiten reagiert, als führende Vertreter der Kurden und Alawiten erklärten, sie betrachteten sich durchaus nicht als Minderheit, sondern als "konstituierender Teil" der Mehrheit. Die Alawiten vertreten im Islam eine eigene Glaubensrichtung. Die meisten Türken sind sunnitische Muslime. Die Debatte jedenfalls hat gerade erst begonnen. Wie wirr es derzeit noch in den Köpfen zugeht, verdeutlichen Fragen, die ein Kommentator der Zeitung "Milliyet" aufwarf: "Gehört ein Türke, der Alawit ist, zur Minder- oder zur Mehrheit? Wie verhält es sich mit einem sunnitischen Kurden? Sowohl Mehr- als auch Minderheit? Oder mit einem Kurden, der Alawit ist? Ist er doppelt in der Minderheit?"

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Ingo Bierschwale/DPA