Myanmar Totenstille liegt über dem Land

Von Joachim Reinhardt
Hunderttausend sind wohl gestorben. Und wer überlebt hat, steht unter Schock. Auch zwei Wochen nach dem Wirbelsturm "Nargis" warten Millionen in Myanmar auf Hilfe. Während die Menschen noch immer den Tod fürchten müssen, sorgen sich die regierenden Generäle allein um ihre Macht.

Auch nach einer Woche schwemmen die Flüsse noch neue Leichen an. Die Fluten spülen sie an das Ufer, wo sie sich in Unrat und Pflanzen verfangen oder im Schlamm stecken bleiben. Oder sie treiben, aufgebläht, an den Dörfern vorbei Richtung Meer: Männer, Frauen, Kinder, dazwischen die gewaltigen dunklen Körper von Wasserbüffeln, die in der Sonne glänzen.

Ein süßlicher, durchdringender Geruch von Fäulnis und Verwesung liegt über Chaung-wa, einem Dorf etwa 170 Kilometer südwestlich von Rangun, der ehemaligen Hauptstadt Myanmars. Eine Woche nach dem schlimmsten Wirbelsturm seit Menschengedenken achten die Menschen hier kaum mehr auf die Leichen, die an ihnen vorbeiziehen. Männer suchen in Trümmern und Schutt nach Material für neue Behausungen. Andere trocknen auf Plastikplanen das bisschen Reis, das ihnen der Sturm gelassen hat.

Das Militär ignorierte die Warnungen

Denn niemand hatte sie gewarnt, obwohl indische Meteorologen bereits zwei Tage zuvor detailliert vorhergesagt hatten, wo und mit welcher Wucht der Zyklon das Land treffen und vor allem die ungezählten kleinen Dörfer im Delta des Irrawaddy verwüsten würde. Doch die Warnungen der Inder, die dem mörderischen Zyklon den Namen der hübschen indischen Schauspielerin "Nargis" gaben, haben die Militärs in ihrer neuen Hauptstadt Nay Pyi Taw vermutlich nicht interessiert.

"Der Wind setzte abends ein", sagt die Bäuerin Myint Aye. Sie schöpft gerade unten am Ufer mit einem Eimer die schmutzige Brühe aus dem Fluss, in dem die Leichen treiben. "Im Schein der Taschenlampen konnten wir beobachten, wie der Wasserpegel immer weiter stieg", erzählt die 55-jährige Frau.

Gewaltig toste der Sturm. Er zerrte an den Hütten, knickte Bäume und Sträucher und erfasste vor allem die Kleinsten und die Gebrechlichen. Wer von den 400 Dorfbewohnern kräftig genug war, kletterte auf einen Baum. Andere glaubten, auf den Dächern ihrer Hütten vor den Fluten Zuflucht zu finden. Manche Eltern banden ihre Kinder mit Kordeln an ihre Körper, damit sie vom Wind nicht fortgerissen würden. Wer konnte, drängte sich in das Obergeschoss eines der zwei solide gebauten Häuser von Chaung-wa. Wer das nicht schaffte, war verloren. Zeit, um zu fliehen, wäre da gewesen - der Sturm baute sich erst auf. Aber es gab keinen Ort mehr, der hoch genug gelegen wäre.

Ein schlechtes Karma

Die alte Bäuerin vergießt keine einzige Träne, wenn sie von dem Schrecken erzählt, der so viele Menschen das Leben gekostet hat. Schuld dafür sucht sie bei niemand anderem. Dass die Götter sie mit dieser Katastrophe bestraft haben, schreibt sie sich selbst zu, ihrem Karma, ihren Vergehen in vorangegangenen Leben.

Myint Aye hat 4 Mitglieder ihrer 15-köpfigen Familie verloren. Ihren älteren Bruder, eine Nichte sowie deren beide Kinder. Die Leiche der Nichte haben sie schon auf dem Feld beerdigt. Sie lag inmitten all des Schutts, zwischen zerfetzten Bananenstauden, unreifen Kokosnüssen, den Resten zerfledderter Schulhefte, zwischen Baumstämmen, Holzlatten und Booten, welche die Flutwelle bis zu 40 Meter weit ins Land hineingetragen hat.

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Kontonummer 469 95 00
Stichwort: Myanmar

So wie in Chaung-wa sieht es überall im Flussdelta des Irrawaddy aus. Hütten, die kaum noch als solche zu erkennen sind, liegen zur Seite geneigt. Oft ist nur das pure Gerüst stehen geblieben. Manche Bewohner haben die Reste ihrer Behausung notdürftig wieder aufgerichtet wie ein Kartenhaus und mit Schnüren an Bäumen festgezurrt. Betten, Stühle, Matratzen, Geschirr, verbogenes Wellblech sind wahllos übereinandergestapelt.

Trinkwasser nur per Boot

Myint Aye selbst ist gar nichts geblieben. Dennoch hat sie Glück, weil ihre jüngere Schwester sie unterstützen kann. "Sie gibt mir Geld", sagt sie. Doch das wird nicht lange reichen. Myint Aye wird es für Benzin ausgeben müssen, das noch knapper ist als sonst. Denn nur mit Booten lässt sich Trinkwasser von drüben, vom anderen Ufer, herbeischaffen. Dort, in der Kleinstadt Pyapon, hat der Zyklon wenigstens einen Brunnen unversehrt gelassen.

Eine gespenstische Ruhe liegt über dem Dorf. Jetzt, am helllichten Tag, haben sich viele der Überlebenden einfach auf dem Boden ausgestreckt. Sie schlafen. Es wirkt, als müssten sie sich von dem langen Kampf mit dem Tod noch immer erholen. Nur in einigen der Trümmerbuden sind Frauen dabei, etwas zu kochen, zu waschen, Dinge von einer Ecke in die nächste zu schaffen. Sie haben müde, ausdruckslose Gesichter. Allein ein paar junge buddhistische Mönche lächeln, während sie sich einen Weg durch das Chaos bahnen, in dem nicht einmal die kleine Pagode unversehrt geblieben ist. Ihre Reste liegen zerborsten überall verstreut. "Wir müssen in einem anderen Leben etwas sehr Schlimmes angestellt haben", sagt Myint Aye.

War mal jemand da vom Militär, um die Lage zu sondieren und zu helfen? "Nein." Glaubt Myint Aye, dass dies irgendwann einmal geschieht? Kopfschütteln. Noch nie hat sich jemand um die Menschen hier geschert. Und warum soll sich Myint Aye mit Dingen beschäftigen, die sie ohnehin nicht beeinflussen kann? Es ist schon schwer genug, für den nächsten Tag zu planen. Denn wo soll man anfangen? Und wo aufhören? "Die Leichen nimmt der Fluss mit auf seinem Weg", sagt Myint Aye. Er schwemmt aber auch ständig neue an, als wollte er sie jedes Mal aufs Neue mahnen, dass der Albtraum noch lange nicht zu Ende ist.

Schweigen bei Kerzenschein

Vor allem nachts kommt der Horror zurück. Wenn es so dunkel ist wie in jener Nacht, als der Sturm über sie hereinbrach. Schon davor hatten sie kein elektrisches Licht im Dorf. Nur einer besaß eine Batterieanlage, mit der er auch einen Fernseher betrieb. Bei ihm haben sie sich mit Videofilmen in die Ferne geträumt. Jetzt sitzen sie bei Kerzenschein und schweigen sich an, in Gedanken an die Stunden im Sturm und die Todesfurcht, die noch in ihnen steckt. Hartnäckig halten sich die Gerüchte, dass der nächste Zyklon sie schon morgen wieder heimsuchen wird.

"Es ist typisch, dass es immer die Ärmsten am schlimmsten trifft, jene, deren Behausungen nicht einmal auf Sockeln stehen", sagt Rüdiger Ehrler. Der 56-Jährige arbeitet im Nothilfeteam der Welthungerhilfe. Im Dorf Chaung-wa haben immerhin 300 von 400 Bewohnern überlebt.

Noch weiter im Süden, näher am Meer, soll von vielen Dörfern nichts mehr stehen geblieben sein. Ehrler kennt die Augenzeugenberichte über Tote, die dort weiter in den Bäumen hängen. Von ungezählten Leichen, die den Strand an der Andamanensee säumen. Von Dörfern, in denen nur 40 von 2000 Menschen überlebt haben. Und von Überlebenden, die zu Hunderttausenden versuchen, sich in die nächstgelegene Stadt zu schleppen.

"Unmenschliche Lage"

Von Tag zu Tag wird die Zahl der Toten nach oben korrigiert. Hunderttausend gelten als realistisch. Dazu kommen zwei Millionen, die überlebt, aber alles verloren haben. "Ich weiß nicht, wie schlecht es den Leuten geht", sagt Ehrler. "Aber selbst wenn sie irgendwo Nahrung herbekommen - die hygienische Lage muss unmenschlich sein." Viele Brunnen sind unbrauchbar. Kinder sind die Ersten, die an Durchfallerkrankungen sterben, wenn es nur noch vergiftetes Wasser gibt. Schon sehen Ärzte das zweite große Sterben voraus. Denn außer den Russen tun sich alle schwer mit dem Diktat der Machthaber, Hilfsgüter abzuliefern, statt sie selbst zu verteilen.

Das ist natürlich auch die Politik der Welthungerhilfe, die inzwischen 500.000 Euro Soforthilfe zur Verfügung gestellt hat. Die rund 20 vertretenen Hilfsorganisationen wissen, dass bereits jetzt auf dem Markt Reis aufgetaucht ist, den korrupte Regierungsvertreter aus Hilfslieferungen abgezweigt haben. "Es ist immer eine Gratwanderung: Was tun wir, um Menschen zu helfen? Und wie sehr stabilisieren wir dabei ein System?", sagt Ehrler.

Denn dass sie das tun, steht außer Frage. Jeder kann im staatlichen Fernsehen verfolgen, wie die Militärs jede Spende politisch ausschlachten. Die Seiten in der Regierungspostille "Das Neue Licht von Myanmar" sind zugepflastert mit Bildern von Generälen, die Opfern Nahrung, Schecks und selbst DVD-Player überreichen.

Nur das Referendum interessiert

Doch in Wahrheit interessiert die Junta in diesen Tagen nur eins: das Verfassungsreferendum, mit dem sie ihre Macht zementieren will. Am vergangenen Samstag ließ sie darüber in allen nicht betroffenen Gebieten abstimmen und stellte sicher, dass es angenommen wird.

Tatsächlich sind in der am schlimmsten betroffenen Deltaregion vereinzelt Militärlaster zu sehen. An manchen Orten soll das Militär an jede Familie pro Tag eine Tasse Reis abgeben. "Man kann darüber verzweifeln. Die Regierung will den Eindruck erwecken, sie hätte alles im Griff ", sagt Ehrler. "Aber eine Katastrophe diesen Ausmaßes würde selbst ein Land wie die Bundesrepublik überfordern." Straßen sind überschwemmt, Brücken eingerissen. Es gibt nur wenige funktionsfähige Hubschrauber, und Sprit ist knapp, Boote sind es ebenso.

Während das Ausmaß der Zerstörung immer ersichtlicher wird, lässt das Regime die internationale Hilfsgemeinschaft auflaufen. Zugang zu dem am schlimmsten betroffenen Gebiet gewähren die Generäle bestenfalls lokalen Helfern, deren Organisationen schon vor dem Zyklon in der Region Projekte betrieben. Nur in den Dörfern bei Rangun, wo Hilfsorganisationen tätig sein dürfen, ist schon so etwas wie Normalität eingekehrt.

Die Straße ist wieder passierbar

In Kyaik Khana etwa hat der Teehändler bereits wieder seinen Ausschank geöffnet. Nescafé-Beutel, Kekse und Bonbons im Zehnerpack baumeln von den Streben seiner Bude aus Bambusstämmen. Ein Junge davor bietet selbst gefangenen Fisch feil. Für seine Waage benutzt er verrostete Batterien als Gegengewicht. Und selbst die einzige Straße durch das Elendsviertel im Westen von Rangun ist wieder passierbar. Umgestürzte Baumriesen sind an den Wegrand geschafft. Dahinter, zwischen verwüsteten Reisfeldern und stinkenden Bewässerungsgräben, sind die Bewohner zerstörter Hütten dabei, Habseligkeiten in große Plastiktüten zu stopfen.

"Bis jetzt waren die Menschen in einer Art Schockstarre. Da geht es nur ums Überleben. Und um die Fragen: Wer ist noch da von der Familie? Wer muss beerdigt werden?", sagt Rüdiger Ehrler. "Nach einer Woche werden sie wieder aktiv. Das wissen wir aus Erfahrung. Dann beginnen sie, die ersten Trümmer wegzuräumen."

Gerade sind sechs lokale Helfer der Welthungerhilfe dabei, zu Matten geflochtene Palmwedel von einem Lkw abzuladen. Obdachlose sollen sich damit Schutzdächer bauen oder ihre Hütten neu decken. Das Team, das hier seit einem Jahr ein Projekt für Tagelöhner betreut, hat für diesen Einsatz sogar das Okay der örtlichen Militärregierung. Einen Tag zuvor, als die Helfer insgesamt 16 Tonnen Reis verteilten, wurden sie zunächst vom Geheimdienst fotografiert, später einbestellt und dann gemaßregelt. Jetzt dürfen sie helfen. Aber sie sind angehalten, größere Menschenansammlungen zu vermeiden und möglichst schnell wieder zu verschwinden.

Einmischung ist verhasst

Menschenaufläufe sind den Chefs der weltweit am längsten währenden Militärdiktatur verhasst. Einmischung von Fremden sowieso. So gesehen können sich die Helfer der Welthungerhilfe noch glücklich schätzen, dass ihr Engagement geduldet wird, wenn auch nur hier, in der Nähe der Großstadt, weit entfernt vom Delta des Irrawaddy-Flusses. Vor Ausländern haben die Machthaber eine geradezu paranoide Angst. Seit 46 Jahren haben sie ihr Land fast völlig von der Außenwelt abgeschottet. Jeder Westler gilt ihnen als potenzieller Spion, jede Einmischung als Bedrohung. Immer und überall wittern sie die Gefahr, ihre Leute könnten mit dem Virus der Demokratie infiziert werden. Und darum entwickelt sich der Einsatz der Helfer in der nach dem Tsunami von 2004 größten Naturkatastrophe Asiens zu einem beispiellosen Skandal in der Geschichte der Katastrophenhilfe.

Denn die Lage spitzt sich zu. Schon jetzt hat sich der Preis für das Kilo Reis verdoppelt. Gerade die betroffene Deltaregion ist für das ganze Land eine Reiskammer. Was wird, wenn von da nichts mehr kommt? Der Markt, so viel ist sicher, wird von den Hilfsorganisationen leer gekauft werden. Also werden die Preise so massiv ansteigen wie noch nie zuvor.

Deshalb ist der Wirbelsturm "Nargis" für das Regime die größte Bedrohung seit Beginn seiner Herrschaft. Bereits die Proteste 1988, als die Militärs nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit 3000 Menschen ermorden ließen, waren durch Preiserhöhungen ausgelöst worden. Der Aufstand der Mönche im vergangenen Jahr ebenso. So könnte "Nargis" am Ende auch das verhasste Regime mitreißen.

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