Was wäre, wenn in einem Staat Terroristen die Macht übernähmen und die exilierte Regierung die NATO um Hilfe bäte? Und was wäre, wenn gleichzeitig Schiffe mit Massenvernichtungswaffen an Bord einen NATO-Staat bedrohten? Mit Krisenszenarien wie diesen beschäftigen sich normalerweise die Militärs. Bei ihrer Herbsttagung in Colorado Springs mussten sich erstmals die NATO-Verteidigungsminister am Mittwoch auf ein Planspiel einlassen. Geklärt werden sollte die Frage, ob die schnelle Eingreiftruppe der NATO ab 2006 tatsächlich wie geplant einsatzfähig sein wird.
Fiktive Szenarien mit realistischem Hintergrund
Das Szenario war fiktiv, aber gleichzeitig realistisch. In einem Staat im Nahen Osten mit dem Namen der Biermarke "Corona" - irgendwo zwischen Saudi-Arabien und Afghanistan - übernehmen Terroristen die Macht. Die NATO schickt 5.000 Soldaten ihrer Eingreiftruppe, um eigene Staatsbürger zu evakuieren. Das interpretieren die neuen Machthaber als Bedrohung und greifen ihrerseits die NATO an. Gleichzeitig werden zwei Schiffe im Mittelmeer geortet, die möglicherweise Massenvernichtungswaffen an Bord haben. Eines davon feuert eine Rakete auf Italien ab, die die NATO abwehrt. Es stellt sich die Frage, ob gegen das zweite Schiff ein Präventivschlag geführt werden kann. Die Minister diskutierten, wie weit sie in ihrer Reaktion gehen würden.
Bundesverteidigungsminister Peter Struck bezeichnete die Simulationsübung als "durchaus wertvoll", auch wenn er ursprünglich Zweifel hegte. Während US-Verteidigungsminister und Gastgeber Donald Rumsfeld nämlich einen ganzen Tag dafür eingeplant hatte, drängte Struck mit Unterstützung europäischer Kollegen auf eine Verkürzung auf vier Stunden. Für eine Auflockerung der normalerweise von drögen vorbereiteten Reden geprägten Tagung zeigte er sich dennoch dankbar. NATO-Generalsekretär George Robertson legte in seiner Eröffnungsrede Wert auf die Feststellung, dass es sich nicht um ein "Kriegsspiel" handele. Bei den Ministern solle lediglich "das kreative Denken" angeregt werde, beteuerte ein NATO-Funktionär.
Washington und die Hintertür
Um die Atmosphäre allein ging es so manchem Teilnehmer jedoch nicht. Nach Auskunft aus Delegationskreisen wurde im Vorfeld befürchtet, die USA könnten durch die Hintertür die Einstimmigkeit im Kreis der NATO aufbrechen wollen. Denn will die Allianz im Krisenfall agieren, kann bislang jedes der 19 Mitglieder - im kommenden Jahr werden es 26 sein - das mit seinem Veto verhindern. Washington wolle sich daher lieber auf eine "Koalition der Willigen" stützen, wurde gemutmaßt.
In NATO-Kreisen wurde das allerdings vehement bestritten. Bei der Übung mit dem Namen "Dynamische Antwort 2007" sei eine Art Bestandsaufnahme gemacht worden, wie schnell die Mitgliedstaaten bei einem Einsatz der schnellen Eingreiftruppe (NRF) tatsächlich die theoretisch zugesagten Truppen bereit stellen könnten, hieß es. Es sei außerdem darum gegangen, wie die Geheimdiensterkenntnisse besser koordiniert werden, welche rechtlichen Probleme auftreten können und wie die Diplomatie ins Spiel gebracht werde.
Die NATO hatte im vergangenen Jahr beschlossen, eine Truppe im Umfang von 15.000 bis 20.000 Soldaten zusammenzustellen, die begrenzt schon in einer Woche und vollständig im Jahr 2006 einsatzfähig sein soll. Probleme mit einer sofortigen Entsendung haben vor allem Ungarn, Deutschland und die Niederlande, wo die Parlamente Mitspracherecht haben. Dabei braucht die ungarische Regierung in ihrer Volksvertretung sogar eine Zweidrittelmehrheit, während die Niederlande ihr Parlament aus freien Stücken befragen kann. Rumsfeld forderte einige Mitglieder auf, "ihre Entscheidungsstrukturen auf den neuesten Stand zu bringen".
Struck denkt über Konsequenzen für Entsendegesetz nach
In Deutschland wird gerade ein Entsendegesetz vorbereitet, das die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung erleichtern soll. Doch gerade bei Kampfeinsätzen ist nicht zu erwarten, dass sich der Bundestag sein Recht auf Zustimmung nehmen lässt. Struck zog daher als Lehre, dass der Entscheidungsprozess im Bundestag beschleunigt werden müsse. Vorstellbar sei, dass in eiligen Fällen ein Bundestagsausschuss die Entscheidung über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten anstelle des gesamten Parlaments treffen könne.