Neuwahlen in der Türkei Erdogans Partei vor Alleinherrschaft

In der Türkei finden nach der innenpolitischen Krise vorgezogene Wahlen statt. Nur drei Parteien haben reelle Chancen, ins Parlament einzuziehen. stern.de befragte türkischstämmige Prominente, was sie von den Wahlen erwarten.

Vor dem Hintergrund einer innenpolitischen Krise finden in der Türkei Neuwahlen zum Parlament statt. Die Regierungspartei AKP war im Mai damit gescheitert, ihren Außenminister Abdullah Gül vom Parlament zum Staatsoberhaupt wählen zu lassen. Das weltlich-laizistische Lager verdächtigt den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative AKP, die in der Verfassung verankerte Trennung von Staat und Religion unterlaufen zu wollen und eine heimliche Islamisierung zu betreiben. Die türkische Armeeführung warnte darauf hin in einer als Putschandrohung verstandenen Erklärung vor einer islamischen Unterwanderung des Staates. In Istanbul, später auch in anderen Städten, gingen Hunderttausende gegen die AKP-Regierung auf die Straße. Sie demonstrierten für die in der Verfassung verankerte Trennung von Staat und Religion.

Zehn-Prozent-Hürde als Hindernis

Dennoch gehen Ministerpräsident Erdogan und seine Partei mit guten Aussichten auf einen erneuten Sieg in die vorgezogene Parlamentswahl. Drei Monate nach dem innenpolitischen Konflikt um die Wahl des Staatspräsidenten sehen Umfragen die AKP mit einem Stimmenanteil um die 40 Prozent deutlich in Führung. Zu der als richtungweisend angesehenen Wahl sind 42,5 Millionen Stimmberechtigte aufgerufen. Sie entscheiden darüber, ob der 53-jährige Erdogan weitere fünf Jahre regieren kann oder aber die Macht abgeben muss.

Um die 550 Sitze in der Nationalversammlung in Ankara bewerben sich 14 Parteien und fast 7400 Kandidaten, darunter eine Rekordzahl von knapp 700 Einzelkandidaten. Die Zusammensetzung des künftigen Parlaments hängt entscheidend davon ab, wie viele Parteien die hohe Zehn-Prozent-Hürde überspringen werden. Neben der bisher bereits im Parlament vertretenen Republikanischen Volkspartei (CHP) gilt die nationalistische Partei der nationalen Bewegung (MHP) laut Umfragen als sicherer Kandidat für einen Einzug.

AKP als klare Favoritin

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Erdogan, die derzeit mit großer Mehrheit alleine die Regierung stellt, geht als klare Favoritin in die Wahl. In der abgelaufenen Legislaturperiode hat sie auch im Ausland stark beachtete Wirtschaftsreformen umgesetzt. Zugleich trieb Erdogan die Bemühungen um einen Beitritt des Landes zur EU voran. Die Führung der Partei hat islamistische Wurzeln, weshalb sie von dem einflussreichen Militär mit Argwohn betrachtet wird.

Die streng auf die Trennung von Religion und Staat pochende Republikanische Volkspartei (CHP) des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk ist programmatisch eher links ausgerichtet, setzt aber zugleich auf die nationalistische Karte. Die Partei hat in den vergangenen Jahren merklich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren, konnte sich durch die jüngsten Massenproteste gegen einen von der AKP gestellten Staatspräsidenten jedoch wieder stärker profilieren

Darüber hinaus wird mit der Wahl von rund 30 Einzelkandidaten gerechnet, von denen die meisten von der pro-kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) unterstützt werden.

Opposition ist europaskeptisch

Erdogan hat als Zielmarke für seine Partei vorgegeben, die 34,3 Prozent, mit denen die AKP im November 2002 aus dem Stand an die Macht gelangt war, deutlich zu übertreffen. Die AKP wolle allein regieren, andernfalls werde er sich aus der Politik zurückziehen, hatte der Regierungschef in der Schlussphase des Wahlkampfes angekündigt.

Im Fall einer Wahlniederlage der AKP ist in der Türkei über eine CHP/MHP-Koalition spekuliert worden. Beide Parteien stehen der Europäischen Union skeptisch bis ablehnend gegenüber und setzen sich für ein härteres Vorgehen gegen den Terrorismus und für einen Militärschlag gegen Lager der kurdischen Untergrundorganisation PKK im Nordirak ein.

Reuters/DPA/AP

Haydar Zorlu

Der Schauspieler Haydar Zorlu ist bekannt durch Serien wie "Die Anrheiner", "Oben ohne" und "Verscholleni". Iim Kinofilm "September", der 2003 auf den Filmfestspielen von Cannes gezeigt wurde, spielte er die Rolle des Schulleiters Benjamin Frank. Haydar Zorlu ist deutscher Staatsbürger.

Ich erwarte nichts Neues von der Wahl. Denn bedingt durch das Wahlsystem in der Türkei ist der Regierungspartei AKP mit dem Ministerpräsidenten Erdogan mit nur knapp 40% der Stimmen die absolute Mehrheit sicher. Die spannende Frage bleibt nach wie vor, wer vom neugewählten Parlament zum neuen Staatspräsidenten gewählt wird. Mein persönlicher Favorit ist Hikmet Çetin. Er könnte dazu beitragen, dass die Türken mit vereinten Kräften einen gemeinsamen Weg beschreiten; gleichgültig, ob nach Westen oder Osten.

Vural Öger

Vural Öger ist Unternehmer und deutscher Politiker (SPD). Er gründete 1969 in Hamburg das Reisebüro Istanbul, aus dem die Öger Türk Tour GmbH hervorging. 1985 gründete er das Unternehmen mit dem Namen Öger Tours, das heute zu den zehn größten Reiseveranstaltern in Deutschland gehört. Seit 1990 ist Vural Öger deutscher Staatsbürger und seit 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments.

Diese Wahl halte ich für die wichtigste seit Gründung der Türkischen Republik. Die Zukunft der Türkei wird sich daran entscheiden, ob die sogenannten säkularen Kräfte die religiös motivierte Regierungspartei an ihrer Parlamentsmehrheit hindern können. Um seinen Europakurs zu halten braucht das Land die Fortsetzung seiner erfolgreichen Wirtschaftspolitik und stabile politische Verhältnisse.

Cem Özdemir

Cem Özdemir, Sohn türkischer Einwanderer, ist seit 1981 Mitglied der Partei Die Grünen und war von 1994 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Ab 1998 war er innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2004 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört hier dem Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten an.

Ich drücke der momentanen Regierungspartei AKP die Daumen. Ein Grüner, der einer islamisch-konservativen Partei, quasi der türkischen CSU, die Daumen drückt? Das mag nur auf den ersten Blick überraschen. Doch es war erstens die AKP, die den türkischen Zug auf europäische Gleise gesetzt hat. Und zweitens sind die Alternativen alles andere als attraktiv, ob nun die linksnationalistische CHP oder die stramm rechtsnationalistische MHP. Ich traue einzig der AKP zu, eine Politik zu betreiben, die europa-orientiert ist und dem Übel des Nationalismus eine Absage erteilt. Ich würde es zudem begrüßen, wenn unabhängige und grüne Kandidaten den Einzug ins Parlament schafften, denn sie transportieren unkonventionelle Ideen einer europäischen, multikulturellen und ökologisch sensiblen Türkei. Die Türkei befindet sich quasi in einem permanenten Umbruch – ich hoffe deshalb nicht nur, dass die türkische Zivilgesellschaft weiterhin eine bedeutende Rolle im öffentlichen Diskurs spielen wird, sondern dass diese Reformer auch entsprechend von uns Europäern unterstützt werden. Alles andere wäre ein fatales Signal.

AP · DPA · Reuters
Reuters/DPA/AP