Obamas Rede an die Nation Die Geburt eines Präsidenten

  • von Katja Gloger
Er war ein Visionär, nun wird er zum Pragmatiker: Barack Obama suchte in seiner Rede an die Nation den Konsens in der Mitte. Er weiß: Im Wahljahr ist mit dem Kongress kaum Staat zu machen.

Der Auftritt gehört zu den urdemokratischen Traditionen des jungen Landes. Einmal im Jahr, stets Ende Januar, darf der Mann aus dem Weißen Haus hinüberkommen auf den Hügel im Osten Washingtons, wo der Kongress tagt. Dort muss der Präsident, mächtig, aber nicht allmächtig, vor den Vertretern des Volkes Rechenschaft ablegen. Die alljährliche "State of the Union", die Rede zur Lage der Nation, wird mit altmodischem Pomp zelebriert, der Präsident bringt seine Gattin mit, ein paar Freunde Freunde, die Regierung, die Richter des Obersten Gerichtes in vollem Ornat. Senatoren und Abgeordnete beider Parteien jubeln und applaudieren stehend. Doch die Rede hält der Präsident stets unter dem Platz, an dem der Sprecher des Kongresses mit dickem Holzhammer wachsam die Zeremonie lenkt. Mit diesen Symbolen zelebriert sich die Amerika als Republik.

Gerne hätte Barack Obama in seiner ersten Rede zur Lage der Nation den ersten großen Sieg seiner Präsidentschaft verkündet: die Verabschiedung einer Gesundheitsreform, der ersten seit 100 Jahren. Hätte damit seinen Anspruch zementiert, dass er das Land wirklich verändern will. Wollte er doch von Anfang an nicht einfach nur ein Präsident zu sein, sondern ein großer Präsident. Gerne hätte er auch erklärt, dass seine Maßnahmen Amerika rascher als erwartet aus Finanzkrise und Rezession führen. Und dass der Rest der Welt seine weit ausgestreckte Hand dankbar ergreift.

Politisches Klima hat sich verändert

Stattdessen war Katzenjammer angesagt. Denn die Wähler haben dem Präsidenten gerade einen gewaltigen Denkzettel verpasst. Seit die Demokraten ausgerechnet im urdemokratischen Bundessstaat Massachusetts Nachwahlen für den Senat verloren, hat sich das politische Klima in Washington verändert. Denn damit ging Obama die Mehrheit im Senat flöten – und so auch die Aussicht, die Gesundheitsreform noch in diesem Jahr zu verabschieden. Im November stehen die wichtigen Kongresswahlen an, und sie drohen für die Demokraten verloren zu gehen.

Denn vielen Menschen da draußen im Land ist diese Gesundheitsreform gar nicht so wichtig. Sie sorgen sich vielmehr um ihren Job. Fürchten das billionenhohe Haushaltsdefizit, das zehn Prozent der US-Wirtschaftskraft ausmacht. Sie fürchten Steuererhöhungen. Und sie sind verdammt wütend auf die ewigen Profiteure von der Wall Street, die sich noch in der Krise auf Kosten der Steuerzahler bereichern. Da sie zudem eigentlich immer wütend auf Washington sind, die Stadt des Geldes, der Lobbyisten und der politischen Kungeleien, gilt ihnen inzwischen auch Obama als Teil des verachteten Establishments.

Obamas Amerika richten sich nach innen

Kaum ein Jahr im Amt, hat der Mann schon ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem. Höchste Zeit also für eine Kurskorrektur, einen Neustart, Zeit für Obama 2.0. Höchste Zeit, auf Tuchfühlung mit dem Volk zu gehen, mit jener viel beschworenen Mitte, mit der man auch in den USA Wahlen gewinnt. Gestern Abend übernahm Obama selbstkritisch Verantwortung für Fehler: "Wir haben es mit einem gewaltigen Vertrauensdefizit zu tun", sagte er, dunkelblauer Anzug, rote Krawatte, ergraute Haare, entschlossener Blick, und gab zu: die Kritik auch an ihm sei zum Teil gar "verdient".

Noch hat man die ideologie-strotzenden Verkündungen vom Schlage eines George W. Bush im Ohr: die Achse des Bösen, die angebliche Agenda der Freiheit, der Krieg gegen den Terror. Dagegen nahm sich Obamas Rede bescheiden aus, rechtfertigend, defensiv. Klug und eloquent wie immer, entspannt der Ton, manchmal mit sarkastischem Witz, als ob ihm der Auftritt Spaß machen würde: "Die finanzielle Unterstützung der Banken war ungefähr so populär wie eine Zahnwurzelbehandlung." Afghanistan? Der Irak? Danach musste man regelrecht suchen, ganz am Ende. Kein Pathos mehr, außenpolitisch geht es nur noch um die Abwicklung der Bush-Kriege. Es war eine innenpolitische Rede. Denn in diesem wichtigen Wahljahr zählt nur noch eins: die Wirtschaft. Und Jobs, Jobs, Jobs. Obamas Amerika richtet sich nach innen.

Gestern Abend musste Obama 68 Minuten lang Konkretes abliefern - und ein bisschen schwäbische Hausfrau war auch dabei: Mehr finanzielle Unterstützung für die Mittelschicht. Steuererleichterungen für Kinderbetreuung, Schulausbildung und kleine Unternehmen. Ein weiteres, 30-Milliarden-Konjunkturpaket zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein Infrastrukturpaket: Straßenbau, High-Speed-Eisenbahnen. "Andere Länder warten auch nicht, sagte Obama. "China, Deutschland, Indien. Ich werde nicht akzeptieren, dass Amerika auf dem zweiten Platz landet."

Er forderte die Verabschiedung des Klimaschutzgesetzes - doch dabei lachte er, als ob er selbst nicht recht daran glauben könne. Und zugleich machte er den Republikanern Konzessionen: mehr Atomkraftwerke, mehr Ölförderung.

Der Präsident forderte eine strengere Kontrolle der Banken und zugleich strenge Haushaltsdisziplin: Die meisten Posten sollen in den kommenden drei Jahren eingefroren werden. Und dafür will Obama den Kongress in die Pflicht nehmen: "Ich will konkrete Lösungen. Und wenn es die nicht gibt, werde ich mein Veto einlegen."

Abschied von Visionen

Ach ja, und dann war da noch die Gesundheitsreform, das bedrohte Herzstück seiner Agenda. "Ich habe das Thema Gesundheit den Menschen nicht klar genug gemacht. Aber das Problem bleibt. Wir müssen es endlich lösen!" Und eher pflichtgemäß mahnte er den Kongress und auch seine eigene Partei: "Wir sollen Probleme lösen, nicht Dauerwahlkämpfe führen. Ständig Nein zu sagen, ist keine politische Führung."

Gestern Abend nahm ein Präsident Abschied von großen Visionen. Gestern Abend ging ein Präsident auf Clinton-Kurs. Ab in die politische Mitte.

"It’s the economy, stupid." Es ist die Wirtschaft, Du Dummkopf. Mir diesem griffigen Slogan hatte Bill Clinton einst Wahlen gewonnen. Auch er musste später leben mit einer republikanischen Mehrheit im Kongress, arrangierte sich in der Mitte, machte die Wähler zu seinen Verbündeten, machte sich ihre Sorgen glaubhaft zu seinen Sorgen, nahm sich noch der scheinbar unwichtigsten Dinge an. So manövrierte er sich erfolgreich durch zwei Amtszeiten.

Nur ein Präsident für eine Amtszeit

Gestern Abend erlebte man den Abschied von jenem Barack Obama, der noch vor einem Jahr kühn verkünden konnte: "Der Wandel hat begonnen." Gestern erlebte man vielleicht die Geburt von Barack Obama, dem Präsidenten. "Ich will lieber ein guter Präsident für eine Amtszeit als ein mittelmäßiger Präsident über zwei Regierungsperioden sein", versprach Obama. Als ob er sich selbst davor bewahren wolle, als Mann aus Washington zu enden.

An diesen Worten will er sich messen lassen. Diesen Gefallen werden ihm die Wähler tun. Vielleicht schon früher, als ihm lieb ist.