Russland Kollektive Verzweiflungstat

In den meisten Gefängnissen Russlands herrschen menschenunwürdige Zustände. Aus Verzweiflung haben sich jetzt 240 Häftlinge gleichzeitig in einem Straflager die Adern in Hals, Armen oder Beinen aufgeschnitten.

Folter und Prügel trieben sie in die kollektive Verzweiflungstat: In Russland haben sich 240 Häftlinge gleichzeitig in einem Straflager die Adern in Hals, Armen oder Beinen aufgeschnitten. Das teilten die Justizbehörden im Gebiet Kursk am Dienstag mit. Die blutige Protestaktion ereignete sich in der Nacht zum Montag in einem Gefängnis der Stadt Lgow, 500 Kilometer südlich von Moskau. Zuvor habe es "unbegründete Gewaltanwendung" gegen einige Insassen gegeben, ermittelte die Staatsanwaltschaft.

Häftlingsberichte über Folterungen

Vor dem Gefängnistor protestierten 50 Angehörige der Häftlinge gegen die Zustände in dem Lager. "Wir haben Angst, dass die Verwandten gewaltsam von der Polizei vertrieben werden", sagte eine Sprecherin der Organisation "Für Menschenrechte" in Moskau. Häftlinge in dem Lager hatten zuvor über Folterungen berichtet. Nach Schätzungen der Organisation hätten sich bis zu 500 Gefängnisinsassen selbst Schnittwunden zugefügt. Bestätigungen dafür gab es nicht. Die Justiz sprach zunächst von 179 verletzten Häftlingen. In dem Straflager von Lgow sitzen verurteilte Diebe, Betrüger und andere Kriminelle zum Teil langjährige Haftstrafen ab.

Nach Angaben der Justizbehörden schwebt niemand der Verletzten in Lebensgefahr. "Die Aktion war sorgfältig geplant. Sie wurde gleichzeitig in zehn Abteilungen der Strafkolonie durchgeführt", teilte die Staatsanwaltschaft im Gebiet Kursk mit.

In den allermeisten Untersuchungsgefängnissen und Straflagern des Landes herrschen menschenunwürdige Zustände. Häftlinge müssen sich zu zehnt oder mehr enge Zellen teilen. Weil an allen Ecken und Enden das Geld fehlt, werden die Häftlinge mangelhaft ernährt. Nur wer es in Freiheit zu Reichtum gebracht hat, kann auch hinter Gittern mit gewissen Privilegien rechnen. Russland hat eine der höchsten Häftlingsraten der Welt. Fast eine Million Russen sitzen im Knast, das ist mehr als ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Zu den größten Problemen des russischen Justizwesens zählen die hohen Krankheitsraten in den Gefängnissen. Offiziell leidet jeder zehnte Häftling an der Armutskrankheit Tuberkulose. Jeder Zwanzigste ist demnach HIV-infiziert.

Gewalt gegen sich selbst

Gefängnisrevolten mit brutaler Gewalt gegen das Wachpersonal wie in Südamerika ereignen sich in Russland nur äußerst selten. In den Vollzugsanstalten zwischen Kaliningrad und Wladiwostok richten verzweifelte Häftlinge die Gewalt meist gegen sich selbst.

Vor zwei Monaten trat im ostsibirischen Gebiet Irkutsk eine Gruppe Häftlinge in den Hungerstreik und versuchte, sich die Adern zu öffnen. Gleiches geschah auch vor zwei Jahren in einem Straflager für Minderjährige in der Stadt Kasan an der Wolga. Von den etwa 50 Jugendlichen hätten sich einige ernsthaft verletzt, berichteten russische Medien. Die allermeisten Straftäter imitierten aber nur tiefe Schnittwunden und fügten sich ein paar Schrammen zu.

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Stefan Voß/DPA