Das Hauptquartier der Volksbefreiungsarmee in Hongkong ist ein grauer Turm mit 28 Stockwerken, gleich im Zentrum der Stadt. Hohe Mauern, Kameras und Wachtürme schützen die Anlage. Die Fenster sind schmal wie Schießscharten. Und vom Dach der Garnison leuchtet ein roter Stern, als Machtsymbol und vielleicht auch zur Warnung.
Am Nachmittag hat es wieder geregnet. Hongkong dampft in der Tropensonne und der nasse Asphalt glänzt wie frisch lackiert. Merkwürdig still ist es geworden hier im Stadtteil Admiralty, wo der Verkehr sonst über die sechsspurige Hauptstraße donnert, seitdem Studenten und Schüler die Harcourt Road besetzt halten, die gleich neben der Garnison verläuft, vorbei an Regierungsgebäuden und den wuchtigen Türmen der Banken und Finanzkonzerne. Ihren Protest haben die Demonstranten gut organisiert: Medizin-Studenten haben Sanitätsstationen aufgebaut, ältere Schüler geben den Jüngeren Nachhilfeunterricht, Familien bringen Wasser und Lebensmittel vorbei. Und seit die Polizei den Demonstranten ein Ultimatum gesetzt hat auch Schutzhelme und Regenmäntel gegen Pfefferspray. Die Atmosphäre erinnert eher an einen Kirchentag als an eine Revolution.
Die Studenten wollen keinen Umsturz
Das war nicht immer so. Am 26. September begannen die Proteste in Admiralty. Zwei Tage versuchte die Polizei, die Studenten mit Gewalt zu vertreiben. Mit bunten Regenschirmen schützten sich die friedlichen Studenten gegen Vertreibungsversuche mit Tränengas und Pfefferspray - so kam die Bewegung zu ihrem Namen: Regenschirm-Revolution.
Joshua Wong klettert auf eine Klappleiter, die improvisierte Bühne. Er hält zwei Mikrofone in der einen Hand und sein Smartphone in der anderen. Der 17-Jährige ist einer der Anführer der Protestbewegung, die freie Wahlen verlangt, so wie sie den Hongkongern versprochen worden waren. "Wir wollen politische Reformen, keinen Umsturz", ruft er den Demonstranten zu und sie klatschen und rufen, obwohl die meisten von ihnen so jung sind, dass sie selbst noch gar nicht wählen dürfen. Vielleicht sind Studentendemonstrationen in Hongkong ein wenig braver und zurückhaltender als im Rest der Welt. Und vielleicht wissen die Studenten auch, dass sie mehr ohnehin nie erreichen werden.
Leonard Yuen sitzt in einem Zelt, ein wenig abseits der Bühne. Seit einer Woche ist er hier. Tagsüber arbeitet er in einer der Versorgungsstationen, die überall auf der Straße entstanden sind. Er verteilt die Wasser- und Lebensmittelspenden der Anwohner an die Demonstranten. In der Nacht schläft er auf einer Plane direkt auf der Straße. Jeden Tag gibt es deshalb Streit mit seinen Eltern – die Demonstrationen sind auch ein Generationenkonflikt. "Viele Ältere sorgen sich um die Stabilität der Stadt. Und sie haben Angst vor China", sagt der 19-Jährige.
Hongkongs Jugend ist selbstbewusst
Hongkongs Jugend ist mit ganz anderem Selbstbewusstsein aufgewachsen als die Generation aus der Kolonialzeit. Seit Jahren sinkt die Identifikation der Jugend mit dem chinesischen Festland. Nie schien die kulturelle Kluft zwischen den Hongkongern und den Festland-Chinesen so groß wie heute – vielleicht.
Yuen hält das Internet für den Grund dafür. Und vielleicht hat die Generation seiner Eltern während der Kolonialzeit auch gelernt sich anzupassen. Und ihre chinesische Identität gepflegt, um sich von den oft ungeliebten Kolonialherren aus Europa abzugrenzen. Denn politische Reche hatten die Hongkonger unter britischer Herrschaft auch nicht. "Wir bemerken, dass unsere Rechte immer weiter beschnitten werden und Chinas Einfluss auf Hongkong stetig zunimmt", sagt Yuen. "Doch das größte Problem ist, dass wir keine Zukunft sehen. Die Lebenshaltungskosten steigen immer schneller und die Löhne sind niedrig."
Yuen wohnt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einer 45-Quadratmenter Wohnung. Der Vater ist Busfahrer, die Mutter arbeitet in einer Reinigung. Gerade die Angestellten und die unteren Bevölkerungsschichten haben inzwischen das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Das Durchschnittsgehalt liegt bei etwa 1400 Euro pro Monat – und Hongkong gehört zu den teuersten Städten der Welt.
Hongkonger fühlen sich von China bedroht
Hongkong war kaum mehr als eine felsige Insel, als die Briten 1841 hier ihren Handelsposten errichteten. Inzwischen ist die Stadt ein boomendes Wirtschafts- und Finanzzentrum, ein winziger Zipfel Kapitalismus, umgeben vom riesigen chinesischen Festland. Als Hongkong 1997 mit einer feierlichen Zeremonie an die Volksrepublik übergeben wurde, hatte die kommunistische Führung bereits verstanden, dass sie der Stadt ihre Freiheiten lassen musste, damit die Wirtschaft nicht kollabiert. Chinas Reformer Deng Xiaoping dachte sich die Formel "ein Land, zwei Systeme" aus: Als "Sonderverwaltungszone" solle Hongkong für 50 Jahre selbst über seine inneren Angelegenheiten entscheiden.
Dass Hongkongs Bewohner heute auf die Straße gehen, liegt auch daran, dass ihre Stadt in den vergangenen Jahren immer stärker mit China verwachsen ist. 41 Millionen chinesische Touristen haben im vergangenen Jahr die Hafenstadt besucht. Fast jeden Tag eröffnen neue Hotels und Edelboutiquen, die gesamte Innenstadt ist zu einem großen Einkaufszentrum geworden – alles, so der Unmut der Bewohner, richtet sich nur noch nach dem Geschmack der konsumhungrigen Chinesen, die nach Hongkong kommen, um das zu kaufen, wofür sie in ihrer Heimat hohe Steuern zahlen müssen. Fast die Hälfte aller Luxuswohnungen werden inzwischen von Chinesen gekauft, die ihr Vermögen im Ausland in Sicherheit bringen wollen. Das Geld der Chinesen hat Hongkongs Wirtschaft einen ungeheuerlichen Boom beschert – doch die einfachen Menschen profitieren davon nicht. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt. Und eingeschüchtert.
Denn auch der politische Druck Pekings ist in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Kritische Medien werden eingeschüchtert und mit Anzeigenboykotten bestraft. Im Februar wurde Kevin Lau, der Chefredakteur der meinungsstarken Tageszeitung Ming Pao, auf offener Straße niedergestochen, er überlebte nur knapp. Im Juni gingen hunderte Anwälte auf die Straße. Die Pekinger Regierung hatte ein Papier veröffentlicht, dass "Vaterlandsliebe" zur "politischen Voraussetzung" für den Richterberuf machen wollte.
Chinas sieht nationale Sicherheit bedroht
Bedroht von Chinas Vorschriften und erdrückt von der Masse der chinesischen Besucher: Das ist die Stimmung, in der die Jugendlichen in Hongkong aufgewachsen sind. Jugendliche wie Joshua Wong, der zum knabenhaften Gesicht der Bewegung geworden ist. Vor zwei Jahren, mit 15, haben er und ein paar seiner Freunde die Schülerorganisation "Scholarism" gegründet. Kurz darauf feierte Wong seinen ersten politischen Erfolg: 2012 konnte er 120.000 Demonstranten mobilisieren, um gegen das Programm zur "Patriotischen Erziehung" zu protestieren. Die chinesische Führung hatte die Hongkonger Jugend mit ideologischem Propagandaunterricht auf Linie bringen wollen. Am Ende wurden die Pläne begraben. Und Wong wurde zum Helden der Bewegung und zu einer der beliebtesten Persönlichkeiten der Stadt.
Ein ganzes Spektrum Hongkonger Oppositioneller unterstützt Wong und seine Bewegung inzwischen, teils öffentlich, teils im dem Hintergrund. Die Studenten organisieren ihre Demonstrationen aus dem Büros der Arbeiterpartei im Parlamentsgebäude, gleich nebenan. Doch die Parteiführer halten sich im Hintergrund. Sie wissen, dass ein 17-jähriger Studentenführer als Posterboy der Demonstrationen besser ankommt.
Eine politische Lösung scheint kaum möglich. Pekings Führung sieht in den Studenten eine Bedrohung der nationalen Sicherheit und nennt Joshua Wong einen "Extremisten". Die Volkszeitung, Sprachrohr der Kommunistischen Partei, schrieb gar von einer "schwerwiegenden Störung der sozialen Ordnung". Die Pekinger Führung fürchtet nichts so sehr wie Proteste, besonders wenn sie von Studenten organisiert werden, die Demokratie und Reformen verlangen. Und die Bilder in den Zeitungen und im Fernsehen erinnern zu sehr an die Studentendemonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989.
Wong: kein schnelles Ende
Ein großer Teil der chinesischen Bevölkerung sieht das sicher nicht anders als die Regierung. Sie schauen auf Hongkong, sehen den Reichtum und die Rechte, die die Hongkonger genießen, und die auf dem Festland fehlen. Und sie fragen: "Was wollt ihr eigentlich noch?" Selbst in Hongkong streiten die Menschen über diese Frage. Schaden Demonstrationen dem Verhältnis zu China? Leidet die Wirtschaft? Chinesen sehen sich nach Harmonie und Stabilität und sie wissen: Jeder Protest und jeder Umsturz ist auch ein Risiko. Zumal wenn sich die Demonstrationen auf andere Städte ausweiten.
Doch die Pekinger Führung weiß auch, dass ein Militäreinsatz in Hongkong ihr Ansehen weltweit ruinieren würde.
"Ich kann nicht verstehen, wie Hongkong so werden konnte wie es ist", ruft Joshua Wong den Studenten zu und man hört den Ärger in seiner Stimme und sieht die Hoffnung in den Gesichtern seiner Zuhörer. Er sagt: "Es wird kein schnelles Ende geben. Unser Kampf braucht Ausdauer." Wong steigt von der Leiter und setzt sich in einer Ecke auf den Asphalt. Er senkt den Kopf und schaut auf das Display seines Handys. Und wie er da kauert, wirkt er auf einmal ganz müde und schwach. Dann springt er auf und saust durch die Menge davon. Die Studenten jubeln ihm zu.