Es sind laute Nächte in Istanbul, aber der Lärm kommt nicht, wie früher, aus Bars und Clubs, von Dachterrassenfeiern und Partybooten. Da jubeln Menschen, die sich über den Ausnahmezustand freuen.
Sie behängen ihre Autos mit türkischen Flaggen und beschallen die Stadt mit Erdogan-Propagandasongs. Versammeln sich auf dem Taksim-Platz, der vor drei Jahren den Gezi-Demonstranten gehörte. Jetzt ist der Platz schon wieder ein Symbol, diesmal für das Gegenteil: den absoluten Sieg von Recep Tayyip Erdogan.
Auf dem Taksim-Platz war die Türkei frei und offen
Alle, die andersdenken, haben Angst. Sie sehen sich vertrieben aus der Innenstadt, ihrem Umfeld, in dem sie noch Atmen konnten bis vor einigen Tagen; der Rest des Landes mag ja schon lange oder immer völlig anders getickt haben, aber hier, um den Taksim-Platz herum, da war die Türkei: frei, offen, europäisch.
Die Bars sind leerer jetzt, die Menschen treffen sich lieber zu Hause. In Whatsapp-Gruppen halten sie sich auf dem Laufenden, schicken sich die letzten Nachrichten. Entscheiden, ob es gut ist, auf die Straße zu gehen, und wenn ja, wohin. Wo ist es sicher? Ausgehen in Istanbul ist in diesen Tagen ein Projekt.
Wird der Präsident heute Abend eine Rede halten, wann wird er sprechen, von woher werden seine Anhänger zum Taksim ziehen, welche Routen vermeidet man lieber?
Gehört den Erdogan-fanatischen Türken die Zukunft?
Über Nacht war das Land ein anderes geworden, als ein Teil des Militärs putschte, aber jetzt wirkt es, als wäre jede Nacht ein weiterer Schritt in die Autokratie. Diese Nächte sind es in Wahrheit, die das Land verändern. Auf den Schock folgte die Entfesselung: Erdogan-fanatische Türken glauben, ihnen gehöre nun endgültig die Zukunft, sie hätten wirklich gewonnen. Ihnen könne jetzt keiner mehr was.
Schlimm daran ist, dass es wahrscheinlich stimmt.
Die Viertel der jungen Türken sind nicht mehr ihre
Es ist, als ziehe sich um die liberalen, die jungen Türken eine Schlinge immer weiter zu. Die Viertel, die ihnen noch geblieben waren, sind nicht mehr ihre. Niemand weiß, ob einem die Polizei helfen würde, wenn ein Erdogan-Fan gewalttätig wird. Oder was geschieht, wenn einem jemand Sympathie für die Putschisten unterstellt, nur, weil man beim Siegestaumel nicht mitmachen mag.
Die einen feiern, Nacht für Nacht, viele von ihnen Leute aus den Vororten, die kaum je zuvor im Zentrum waren - das U-Bahn-Ticket war ihnen zu teuer, jetzt fährt die Metro gratis.
Die anderen werden unsichtbar; schweigen, schon aus Ratlosigkeit. Sie wissen schlicht nicht mehr, welche Partei sie noch unterstützen sollen, an welchen Politiker sie glauben können; und es fehlt ihnen die Fantasie, wie sich der Weg in den Erdogan-Staat noch aufhielten ließe. Sie geben sich auf.
Präsident Erdogan muss sich bis 2019 keiner Wahl stellen, es sei denn, er tut es freiwillig, und dann würde er im Moment mit ziemlicher Sicherheit gewinnen. Den Ausnahmezustand wird er ausnutzen, das ist so klar, das es fast wie eine Binse klingt - er wird die zusätzlichen Befugnisse nutzen, um zu regieren, wie er es für richtig hält. Von der Verfassung oder der Opposition nicht weiter belästigt.
48 Prozent haben nichts mehr zu sagen
52 Prozent der Türken stünden auf seiner Seite, so hat er das Vorgehen begründet; alles also demokratisch legitimiert, was er tut. Die 52 Prozent sind sein Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren. Eine Mehrheit, eine knappe.
48 Prozent haben in diesem Land nichts mehr zu sagen.
