Die Beziehung der türkischen Bevölkerung zu Europa ist eine inhaltlich komplizierte, emotional zermürbende Angelegenheit. Deshalb kann sich jeder, der ein wenig mit der Psyche dieses Staates und seiner Bewohner vertraut ist, vorstellen, zu was für einer Anspannung die Teilnahme der türkischen Mannschaft an dieser Europameisterschaft geführt hat - schon lange vor dem ersten Anpfiff. Jetzt hat das Team in Rot-Weiß überraschend das Halbfinale erreicht, mit furiosen, leidenschaftlichen Last-Minute-Siegen. Jetzt geht es gegen die Deutschen. Ausgerechnet. Wie hat sich all das in der Gemütslage der türkischen Bevölkerung niedergeschlagen?
Sicher ist, dass Nationaltrainer Fatih Terim, die meistgelobte und meistgehasste Person des türkischen Fußballs, eines seiner Ziel bereits jetzt erreicht hat. "Sie werden uns nicht vergessen", hatte der Mann vor dem Turnier gepoltert - mit "sie" waren die Europäer gemeint, also jene Europäer, die schon dazugehören, zu dem politischen Verein Europäische Union. Und in der Tat. Sie werden sie nicht vergessen, diese Erfolge der türkischen Mannschaft. Die Europäer nicht, die Terim im Blick hatte, die eingefleischten Fußballfans in der Türkei nicht - und auch die Begeisterten quer durch alle Schichten nicht. Aber der Reihe nach.
Dem gewöhnlichen türkischen Fußball-Fan, dem Kenner, das ist klar, wird ein Team in Erinnerung bleiben, das durch Kampfgeist und Glück reüssiert hat - zugegeben, immer erst am Schluss, aber immerhin. Dabei fasziniert die EM keineswegs nur die Profi-Fans. Im Gegenteil. Nie zuvor hat eine türkische Nationalmannschaft auch die Mitglieder jener Schichten mitgerissen, die dem Sport ansonsten gleichgültig oder gar feindselig gegenüber stehen.
Die EM ist Thema Nummer eins in diesem Land, das sich sonst zwangsläufig in erster Linie mit ernsthaften Krisen beschäftigen muss, etwa damit, dass die Regierungspartei AKP zwar mit 47 Prozent der Wählerstimmen die Macht errungen hat, aber Gefahr läuft, von der Justiz in einem rein politischen Prozess verboten zu werden; oder damit, dass reihenweise Kriminelle mit staatlichen Waffen und Munition verhaftet werden.
Selbst gemäßigte Bürger sind euphorisch
Die EM-Euphorie überlagert das derzeit alles. Selbst gemäßigte Bürger, die dem aufgepumpten Nationalismus an sich skeptisch gegenüber stehen, feiern mit. Sie feiern die Erfolge - und vor allem feiern sie das Verhalten der türkischen Spieler auf dem Spielfeld. Zwar diskutieren diese gewohnt unermüdlich mit dem Schiedsrichter. Das aggressive, unsympathische Verhalten vergangener Partien haben sie jedoch abgelegt. Einzig Trainer Terim, der seine Glanz- und Glamour-Periode mit Kaiser-Franz-ähnlicher Immunität schon lange hinter sich hat, zieht Ärger auf sich.
Die dauerhaften Auswirkungen dieser Begeisterung auf die nationale Psyche sind jedoch umstritten. "Wir brauchen diesen Erfolg" sagen die einen. Es handele sich lediglich um ein Strohfeuer, unken die Skeptiker. Selbst ein Europameister Türkei, selbst die einhergehende Euphorie, prophezeihen sie, würde nur ein kurzes Aufflackern bedeuten, bevor die düsteren politischen Schlagzeilen wieder alles verdecken.
Trotz hoffnungsloser Situation glühte die Leidenschaft
Allerdings bietet das Auftreten der türkischen Mannschaft bei der EM Anlass, dieses, jenseits der innenpolitischen Auswirkungen, auch in einem größeren, europäischen Kontext zu beleuchten. Spannend ist nämlich, dass die Siege der türkischen Mannschaft dadurch errungen wurden, dass diese durchgehend und entschlossen auf das Prinzip Chaos gesetzt hat: Es wurde gewartet, als es zu handeln galt. Es wurde gehandelt, als es schon zu spät war. Und dennoch, die Leidenschaft glühte. Aufgegeben wurde nie, selbst in hoffnungsloser Situation. In der Türkei ist die Spannung, die dieses Chaos hervorbringt, ein Schlüsselbegriff des Lebens, keine Ausnahme, sondern Alltag. Neu ist, dass dieses Chaos Erfolg zeitigt, dem Land bei der EM Siege beschert. Der Fußball-Gott hat diesmal alle Rationalität und Normalität ausgeschaltet. Er lässt den Wahnsinn obsiegen.
Aber was sind die Lehren aus dieser Erkenntnis? Gibt es Erkenntnisse, die sich von der Welt des Fußball auf die Welt der Politik übertragen lassen? Gegner des EU-Beitritts der Türken, etwa der französische Präsident Nicolas Sarkozy, könnten nun wettern: "Seht her. Die wirbeln die etablierte europäische Hackordnung des Fußballs mächtig durcheinander. Ein Finale Russland gegen die Türkei ist denkbar. Was für ein Chaos werden die erst in Brüssel verursachen!" Dem könnten Freunde eines EU-Beitritts freilich entgegenhalten, dass die Türken nichts anderes getan haben, als sich ein urdeutsches Modell zueigen gemacht zu haben.
Ein Sieg per Chaos?
Schließlich sind sie drauf und dran, ein zuvor ehernes Gesetz zu ihren Gunsten umzudeuten, das da besagte: Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten und am Schluss gewinnen immer die Deutschen. Diese Regel scheint jetzt durchbrochen - zu Lasten der Deutschen. Jetzt dauert ein Spiel zwar immer noch gut 90 Minuten, aber bislang gewinnt eben immer die türkische Mannschaft. Last Minute. Per Chaos. Warum, so mag man argumentieren, sollte diese Variante nicht auch in Brüssel zum Erfolg führen, jetzt, wo es dort, memento Irland, auch scheinbar eher um effektives Chaos-Management geht als um stringente, perfekte, gut durchorganisierte Politik?
Wie auch immer. Ob eingefleischter Fan oder vormaliger Fußball-Skeptiker. Eigentlich hatte in der Türkei niemand ernsthaft damit gerechnet, dass es der Mannschaft gelingen würde, ins Halbfinale der EM vorzudringen. Nun stehen sie jenen Deutschen gegenüber, die trotz aller Streitigkeiten als Verwandte gelten, die man hier für ihre Erfahrung, ihren Perfektionismus und ihr Selbstvertrauen achtet. Mit stolzgeschwellter Brust werden die Spieler auflaufen, stolz, weil sie es eben sind, die den Deutschen gegenüber stehen, und nicht die Tschechen oder die Kroaten. Das fühlt sich an wie ein Lungenzug klarer, frischer Luft. Und dann werden alle auf die Schlussphase warten. Und darauf hoffen, dass zumindest der Fußballgott noch einmal dem Erfolgsmodell Chaos den Vorzug gibt. Europa hin oder her.