Brasilien "Es fühlt sich an, als hätte ich einen Krieg verloren"

Wassermassen wie nie zuvor in Brasiliens Geschichte: Die Flutkatastrophe im Süden des Landes machte 2024 Hunderttausende obdachlos. Hier erzählt eine Mutter, wovon sie seither träumt.
Brasilien: Portrait einer Familie
Raquel Fantoura, 40, mit ihren Kindern Kaua, 14, Lourdes Angelina, 12, und Kelvin, 17 (v.l.n.r.). Die Familie verlor bei der Flutkatastrophe von Porto Alegre in Brasilien im Frühjahr 2024 ihr Haus
© Mathias Braschler, Monika Fischer

Was ich mir wünsche? Meine Mutter zu sehen, wie sie entspannt auf der Couch vor dem Fernseher sitzt. Das hat sie schon lange nicht mehr getan. Zu erleben, dass meine Kinder es zu etwas bringen. Sie sollen mehr erreichen im Leben als ich. Und ich möchte endlich wieder selbst kochen für meine Familie und mich. Ein großes brasilianisches Barbecue wäre schön.

Das alles scheint im Moment in so weiter Ferne. Wir leben in einer Notunterkunft. Es ist eine ordentliche Herberge. Wir sind alle in Sicherheit. Aber so wollten wir nicht leben.

Ich heiße Raquel Fantoura. Ich bin 40 Jahre alt und stamme von der Ilha do Pavão, einem Insel-Vorort von Porto Alegre im äußersten Süden Brasiliens. Ich arbeite als Putzfrau, wie meine Mutter früher auch.

Auf einmal krachte es hinter mir. Das war mein Haus, das zusammenbrach

Wie man mit dem Wasser fertig wird, das wusste ich seit meiner Kindheit. Hier im Süden von Brasilien hatten wir ja immer Überschwemmungen. Wenn es stark regnete, haben wir alle unsere wertvollen Sachen immer in den ersten Stock geräumt. Genauso habe ich es auch an dem Abend Ende April 2024 gemacht. Als ich morgens aufwachte, reicht das Wasser schon bis hoch zu meiner Matratze. Ich bin dann zur Arbeit gefahren, über die große Brücke rüber in die Stadt. So schlimm wird es schon nicht werden, dachte ich. Erst später, als ich wieder nach Hause kam, erkannte ich: Es gibt kein Zurück. Zum Glück war tagsüber niemand zu Hause gewesen.

Aber meine beiden Katzen musste ich noch retten. Die saßen auf dem Dach. Als ich mit ihnen fortschwamm, krachte es hinter mir auf einmal fürchterlich. Das war mein Haus, das zusammenbrach. Ich hatte nicht den Mut, zurückzuschauen. Ich bin einfach weiter geschwommen.

22 Jahre hatten wir dort gewohnt. Vorn ich und die Kinder. Meine Mutter in einem eigenen Häuschen im Hinterhof.

"Ich habe mein Haus verloren. Und meine Würde"

Ich habe mehr als ein Haus verloren an diesem Tag. Das Wasser hat mein bisheriges Leben fortgespült. Ein Stück von mir fehlt seither. Ich fühle mich würdelos. Mein Leben lang habe ich dafür gesorgt, dass die Kinder hatten, was sie brauchten. Und jetzt kann ich das nicht mehr.

Ich weiß noch, wie ich am Tag der Flut auf dieser großen Brücke stand. Das Militär hat die Menschen von dort aus nach und nach in Sicherheit gebracht. Ich stand auf der Brücke – und eine Sekunde lange dachte ich: Spring doch. Es war nicht einfach.

Die Kraft zum Weitermachen hat mir meine Familie gegeben. Ich habe an meine Mutter gedacht. Ich bin ihr einziges Kind. Und natürlich an Kaua, Lourdes und Kelvin, meine drei Kinder. Und ich habe gehofft, dass ich wieder nach Hause kann, wenn die Flut vorbei ist. Das etwas übrig bleiben würde. Aber es kam anders.

Versunkene Heimat: Ein Wohnviertel nahe der Stadt Porto Alegre, das die Überflutungen vom Mai 2024 zerstörten
Versunkene Heimat: Ein Wohnviertel nahe der Stadt Porto Alegre, das die Überflutungen vom Mai 2024 zerstörten
© Mathias Braschler, Monika Fischer

Die Kinder haben den Verlust ihres Zuhauses bis heute nicht verwunden. Immerhin hat die Kleine hier in der Notunterkunft jetzt mehr Freunde als früher auf der Insel. Und sie hat ihr Handy, das ist sehr wichtig. Sie versucht, ein normales Leben zu führen. Ihre Brüder sind verschlossener. Zum Glück konnte ich sie an einer neuen Schule anmelden. Dort können sie lernen und sich eine Chance auf ein normales Leben erarbeiten.

"Klimawandel? Davon habe ich noch nie gehört"

Ich fühle mich, als hätte ich einen Krieg verloren. Es ist ein Gefühlschaos, kaum zu beschreiben. Ich glaube, es gibt noch kein Wort, dass es richtig beschreibt. 

Klimawandel? Davon habe ich noch nie gehört. Vielleicht stimmt das ja, dass, was hier passiert ist, mit Dingen anderswo auf der Welt zu tun hat.

Portrait-Session im kenianischen Busch: Mathias Braschler (.l) und Monika Fischer (r.) bei der Arbeit

Wie der Report "Die Heimatlosen" entstand

Ihr mobiles Fotostudio bauen die Schweizer Fotografen Monika Fischer und Mathias Braschler dort auf, wo die Protagonisten sind. Mal in einer mongolischen Jurte, mal in einer Lehmhütte im Irak oder, wie hier, im kenianischen Busch. Der neutrale Hintergrund gehört zum Konzept. "Wir wollen zeigen: Es sind alle gleich", sagt Fischer. Die "Displaced"-Dokumentation wurde vom UN-Welternährungsprogramm (WFP) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unterstützt. stern-Autor Steffen Gassel begleitete die Recherchen in Deutschland, der Schweiz und im Irak. Alle Fotos, Videos und Texte des exklusiven stern-Reports finden Sie auf dieser Sonderseite.

Aber wissen Sie was: Ich glaube an Gott und an die Vorsehung. Daran, dass alles im Leben aus einem Grund geschieht. Und ich weiß, dass Gott noch etwas Besseres mit mir im Sinn hat. 

Am Ende von all dem werde ich meinen Sieg feiern. Nur wann, das weiß ich noch nicht. Ich bin so müde.

Ich habe noch einen Wunsch: ein Haus. Irgendwo, wo es sicher ist. Wo das Wasser uns nicht mehr erreicht.

Protokoll: Steffen Gassel (auf Grundlage eines Interviews von Monika Fischer und Matthias Braschler)

Dieser Inhalt ist Teil des Projektes "Die Heimatlosen", das die Folgen des Klimawandels dokumentiert. Alle Fotos, Videos und Texte des stern-Reports finden Sie auf dieser Sonderseite.

 

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