Russland plant nach Aussage eines hochrangigen US-Beamten, noch in diesem Monat einen Teil der Ostukraine zu annektieren. Zudem gingen die USA davon aus, dass der Kreml auch die südliche Stadt Cherson als unabhängige Republik anerkennen werde, sagte Michael Carpenter, US-Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Keiner der beiden Schritte würde von den Vereinigten Staaten oder ihren Verbündeten anerkannt werden.
Pseudo-Volksabstimmungen wie auf der Krim?
Das Regime in Moskau wolle in den Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine Scheinreferenden abhalten, die "den Anschein demokratischer oder wahlrechtlicher Legitimität erwecken" und die Gebiete an Russland angliedern sollen, berichtete Carpenter. Außerdem gebe es Anzeichen dafür, dass Russland eine Unabhängigkeitsabstimmung in der Seehafenstadt Cherson einfädeln werde, ähnlich dem vor sechs Jahren vom Kreml veranstalteten Pseudoreferendum über den Status der Krim, dem die Annexion der ukrainischen Halbinsel durch die Russische Föderation folgte.
Spekulationen über die Vorbereitung einer solchen Volksabstimmung in Cherson hatten sich zuletzt verstärkt. Unter anderem sollen in der Region Flugblätter mit entsprechenden Aufrufen aufgetaucht sein.
Cherson war die erste ukrainische Stadt, die von der russischen Armee nach der Invasion am 24. Februar erobert und vollständig eingenommen wurde. Seither seien Bürgermeister und lokale Abgeordnete verschleppt und die Internet- und Mobiltelefonverbindungen unterbrochen worden, erklärte Carpenter. In den Schulen solle bald ein russischer Lehrplan eingeführt werden. Und am vergangenen Sonntag begannen die russischen Streitkräfte der "New York Times" zufolge damit, die Umstellung von der ukrainischen Hrywna auf den russischen Rubel zu erzwingen.
"Die Frage einer Rückkehr des Gebietes Cherson in die nazistische Ukraine ist ausgeschlossen", sagte denn auch der von Moskau als Machthaber eingesetzte Kirill Stremoussow am vergangenen Donnerstag der russischen Staatsagentur Ria Nowosti. "Das ist unmöglich." Und Russlands Vize-Außenminister Andrej Rudenko vermied vor einer Woche ein klares Dementi eines möglichen Referendums und antwortete auf eine entsprechende Frage lediglich, dass er von derartigen Plänen "nichts gehört" habe.
Cherson hat im Ukraine-Krieg eine wichtige Bedeutung
Seit die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin damit gescheitert sind, die ukrainische Hauptstadt Kiew einzunehmen, konzentrieren sie ihre Angriffe auf den Süden und auf den Donbass, wo die von Moskau unterstützten Separatisten seit 2014 gegen die Ukraine kämpfen. Die Stadt Cherson und die gleichnamige Provinz an der Mündung des Dnjepr ins Schwarze Meer sind dabei ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt.
Cherson liegt etwa zwei Autostunden nördlich der Krim und ist ein möglicher Knotenpunkt einer Landbrücke in den Donbass, also zu den bereits besetzten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk. Eine dauerhafte Kontrolle über Cherson und ihre Verkehrsverbindungen würde die russischen Fähigkeiten erhöhen, den Vorstoß im Norden und Westen der Ukraine aufrechtzuerhalten sowie die Kontrolle über die Krim abzusichern, stellte das britische Verteidigungsministerium am Sonntag fest.