Russlands Krieg Zwangsrekrutierung in der Ukraine – ein Menschenfänger packt aus

Seit 2022 kämpfen ukrainische Soldaten gegen Angreifer aus Russland. Doch es gibt in der Ukraine nicht genug Freiwillige, die sich zum Militärdienst melden
Seit 2022 kämpfen ukrainische Soldaten gegen Angreifer aus Russland. Doch es gibt in der Ukraine nicht genug Freiwillige, die sich zum Militärdienst melden
© Kostiantyn Liberov/Libkos / Getty Images
Der Ukraine fehlen freiwillige Soldaten. Also fangen Rekrutierungsoffiziere Männer auf der Straße ein. Einer von ihnen hat nun ein Interview gegeben.

Die Rekrutierung von Wehrpflichtigen ist ein sensibles Thema für die Ukraine. Immer weniger Männer melden sich einfach im zuständigen Rekrutierungsbüro und lassen sich einziehen. Die Regierung steuert mit drakonischen Mitteln gegen. Wehrpflichtoffiziere fangen Männer auf der Straße ein. Lange wurden die Einsätze abgestritten oder zumindest totgeschwiegen, obwohl zahllose Videos kursieren, die das brutale Vorgehen dokumentieren. Nun konnte der britische "Telegraph" mit einem von Selenskyjs Menschenfängern sprechen.

Er beschreibt, wie die Männer ihre Einsätze planen. Wie sie Cafés, Restaurants und Nachtclubs stürmen und überall dort auftauchen, wo sie junge Männer vermuten. Die haben allerdings auch reagiert. Manche verlassen das Haus nicht mehr. Ein Nebeneffekt: Dating ist praktisch zum Erliegen gekommen, zumindest mit Einheimischen. Die einen sind an der Front, die anderen wollen nicht hin.

Kidnapping für die Wehrpflicht 

Das konservative Blatt unterstützt stets die freie Ukraine, beschönigt die brutale Praxis aber nicht. Der Offizier wollte anonym bleiben und wird in dem Stück Artem genannt. "Manchmal ist es, als hätte man es mit einer in die Enge getriebenen Ratte zu tun", sagte Artem dem "Telegraph" und beschreibt, wie er seine "Opfer" in Lieferwagen zerrt und die Verzweifelten in Rekrutierungszentren des Militärs bringt. "Sie kämpfen weiter, sogar wenn sie im Fahrzeug sind. Diejenigen, die Widerstand leisten, drohen immer damit, sich an unseren Jungs oder ihren Familien zu rächen." Artem verbirgt seine Tätigkeit vor Familie und Freunden. Er und seine Kameraden sind gefürchtet, gibt er zu. Selbst bei "diejenigen, bei denen die Papiere in Ordnung sind, haben immer Angst."

Kidnapping für die Wehrpflicht 

Gelingt es ihnen, Männer einzufangen, werden sie in Transporter gesteckt und gezwungen, sich einer militärmedizinischen Untersuchung zu unterziehen, dann geht es in ein Ausbildungszentrum. De facto werden die angehenden Soldaten wie Kriminelle inhaftiert. Sobald sie einmal gegriffen wurden, lässt man sie nicht mehr entkommen. "Früher durften die Leute nach Hause gehen und ihre Sachen packen, aber in letzter Zeit kommen sie nicht mehr freiwillig zurück. Sie verstecken sich und tauchen nicht auf. Manchmal müssen wir ihnen je nach Situation sogar ihre Telefone wegnehmen."

Emotional schottet Artem sich ab. "Ich habe gelernt, meine Emotionen bei der Arbeit zu kontrollieren, und jetzt ist es für mich einfach nur ein Job." Und dann fällt ein verräterischer Satz: "Ich habe immer das Argument: entweder sie oder ich." Nicht, dass ihn die Eingefangenen töten würden, aber wenn Artem nicht als Rekrutierer arbeiten würde, müsste er selbst an die Front.

Der Ukraine fehlen Soldaten 

Trotz der drakonischen Maßnahmen kommen nicht genug Rekruten zusammen. Zum einen gibt es Personenkreise, die von der Wehrpflicht freigestellt sind, dann falsche Atteste, die einen mit einer vorgetäuschten Erkrankung vor dem Dienst schützen. Und es findet ein Katz- und Mausspiel statt. Die potenziellen Opfer nutzen Internetgruppen, um sich gegenseitig zu warnen. Die Einsatzkräfte werden gefilmt und ihr Standort gemeldet. Da sie in Uniform sind und stets Lieferwagen benutzen, sind sie leicht zu entdecken. Teilweise werden die Fahrzeuge nachts in Brand gesetzt. Einzelne Opfer laufen davon. Anderen kommen Frauen zur Hilfe. In ländlichen Regionen kann es auch gefährlich werden: Videos zeigen, dass es keine gute Idee ist, Holzfäller im Gebirge festzunehmen.

Die Herausforderungen der Rekrutierung offenbaren ein zentrales Problem der Ukraine. Sie kann nicht genügend frische Soldaten aufstellen. Immer wieder gibt es Forderungen, dass die Männer, die seit beinahe drei Jahren im Kampf stehen, entlassen werden sollen. Das scheint ganz und gar unmöglich. Die Veteranen sind müde, aber weitaus kampfstärker als die neuen Rekruten. Die so Rekrutierten werden nur notdürftig ausgebildet und ausgerüstet. Teils werden sie schon nach wenigen Tagen an die Front geschickt. Ihre Chancen sind gering.

Gesellschaft ist kriegsmüde 

Das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Gallup hat im November eine Umfrage über die Einstellung der Ukrainer zum Krieg und zu möglichen Friedensverhandlungen veröffentlicht. Dort heißt es: "Nach mehr als zwei Jahren zermürbenden Konflikts sind die Ukrainer des Krieges mit Russland zunehmend überdrüssig. In den jüngsten Umfragen von Gallup in der Ukraine, die im August und Oktober 2024 durchgeführt wurden, wünschen sich durchschnittlich 52 Prozent der Ukrainer, dass ihr Land so bald wie möglich ein Ende des Krieges aushandelt. Fast vier von zehn Ukrainern glauben, dass ihr Land bis zum Sieg weiterkämpfen sollte." 2023 waren noch 63 Prozent der Befragten laut Gallup der Meinung, dass die Ukraine weiterkämpfen solle, nun sind noch 38 Prozent. Aber die 38 Prozent sind zum größten Teil nicht bereit, selbst zur Waffe zu greifen. Würden sie sich freiwillig melden, bräuchte es Männer wie Artem nicht.

Quelle: Telegraph