Wasser, Konserven, Nudeln: Das Bonner Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katstrophenhilfe rät grundsätzlich dazu, einen Vorrat an gewissen Lebensmitteln bei sich zuhause zu lagern – und zwar unabhängig davon, ob ein Krisenfall bevorsteht oder nicht. Doch der Fall der Fälle scheint angesichts des Ukraine-Krieges wahrscheinlicher geworden zu sein. Zumindest legen das jüngste Aussagen von Bundesinnenministerin Nancy Faeser nahe. Sie ruft die Bevölkerung zur Vorratshaltung auf, für den Fall, dass ein längerfristiger Stromausfall droht.
Diese Nachricht kommt in Zeiten eines Krieges im Osten Europas und von Debatten über die Energieversorgung in Deutschland wenig beruhigend daher. Und wirft eine Frage auf: Droht der Ukraine-Krieg nach dem beschlossenen Öl-Embargo weiter zu eskalieren?
Das befürchten zumindest westliche Politiker. Manch einer rechnet sogar damit, dass der russische Aggressor in den nächsten Tagen eine Kriegserklärung abgibt. Ein Novum, hatte Machthaber Wladimir Putin bisher doch von einer "Spezial-Operation" im Nachbarland gesprochen. Für ein mögliches Eintreten dieses Falls gibt es nach Ansicht mancher Politiker sogar schon ein festes Datum. "Man muss befürchten, dass Wladimir Putin am 9. Mai die Generalmobilmachung bekanntgibt", sagte etwa CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter der "Augsburger Allgemeinen".
Teilmobilmachung, Kriegserklärung – diese Optionen gibt es
Sollte es wirklich so weit kommen, hätte die russische Kriegserklärung auch einen symbolischen Charakter. Denn am 9. Mai feiert Russland jährlich mit einer Militärparade den Sieg über Hitler-Deutschland 1945. "Der 9. Mai soll vor dem heimischen Publikum angeben, die Opposition einschüchtern und dem jeweils herrschenden Diktator gefallen", analysiert James Nixey, Direktor des Russland-Eurasien-Programms im Chatham House, das Spektakel im US-Sender CNN. Eine Kriegserklärung an diesem Feiertag würde in das Schema des Kremlchefs passen. Immerhin begann die Invasion in der Ukraine einen Tag nach dem Tag des Verteidigers des Vaterlandes – einem weiteren wichtigen Militärtag in Russland.
Mit Spannung wird deshalb die Rede des russischen Präsidenten am "Tag des Sieges" erwartet. Sollte es sich um eine Kriegserklärung handeln, hält auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin eine weitere Verschärfung des Konfliktes für realistisch. Putin könnte dann größere Cyber-Attacken durchführen oder chemische und biologische Waffen einsetzen.
Dass der Kremlchef den 9. Mai in irgendeiner Weise nutzen wird, hält auch die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Liana Fix von der Körber-Stiftung für wahrscheinlich. "Putin wird diesen Tag als Verbindung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ukraine-Krieg nutzen, um zu symbolisieren, dass er auf der richtigen Seite der Geschichte steht", sagt Fix dem stern. Allerdings gebe es neben einer potenziellen Kriegserklärung weitere Optionen. Möglich wäre nach Einschätzung der Expertin etwa eine Teilmobilmachung.
In diesem Fall würden Reservisten für den Einsatz ausgebildet und in die Ukraine geschickt. Das könnte allerdings als Eingeständnis für das Versagen der russischen Armee gewertet werden. "Das ist der Unterschied zur bisherigen 'Spezial-Operation'. Innenpolitisch wäre die Teilmobilmachung ein Risiko", so die Einschätzung der Wissenschaftlerin. Bisher wurden Berufssoldaten und Wehrpflichtige in den Krieg geschickt – was in Russland bereits Protest ausgelöst hatte.
Mischt Belarus demnächst im Ukraine-Krieg mit?
Zuvor hatten Medien über die russische Generalmobilmachung spekuliert. Auch der Chef der ukrainischen Militäraufklärung, Kyrylo Budanow, sprach von russischen Vorbereitungen auf eine offene Mobilisierung von Soldaten und Reservisten. Belege dafür gibt es nicht. Auch Fix ist skeptisch, dass demnächst wirklich eine Kriegserklärung folgt, zumal der russische Machthaber der Ukraine den Krieg bereits am 24. Februar mit der Invasion erklärt hat. In erster Linie handele es sich bei der Bezeichnung als "Spezial-Operation" um "Propaganda nach innen", ist die Expertin überzeugt.
Dafür hat nun Russlands Verbündeter Belarus eine unangekündigte Militärübung gestartet, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtet. Man wolle die Reaktionsfähigkeit der Armee testen, begründet das belarussische Verteidigungsministerium das Manöver. Es gehe darum, "die Bereitschaft und die Fähigkeit der Truppen zu testen, schnell auf eine mögliche Krise zu reagieren". Vor allem in der Ukraine dürfte die Nachricht gespannt verfolgt werden. Immerhin hatte die Regierung in Kiew mehrfach den Verdacht geäußert, Belarus würde mit eigenen Truppen die russische Offensive unterstützen.
Die Befürchtung ist nicht unbegründet. Machthaber Alexander Lukaschenko gilt als Verbündeter von Wladimir Putin, sein Land dient als Rückzugsgebiet und logistische Basis für den russischen Militäreinsatz in der Ukraine. Dass Belarus am 9. Mai in den Krieg eintritt, hält Fix allerdings für unwahrscheinlich, weil bisherige Versuche von russischer Seite, den Partner einzubeziehen, wenig erfolgreich gewesen seien.
Klar ist nach Einschätzung der Historikerin jedoch: Den Sieg werde Putin am 9. Mai nicht erklären. "Dafür sind die Fortschritte nicht groß genug". Möglich wäre aber die Verkündung einer russischen Annexion der selbsternannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk.
Möglich sei aber auch, dass gar nichts passiert. "Putin liebt es, mit Überraschungen und Erwartungshaltungen zu spielen und diese nicht zu erfüllen. Damit inszeniert er sich selbst als unberechenbar", erklärt Fix gegenüber dem stern.
Stünde die Ukraine ohne westliche Sanktionen besser da?
Angesichts der bestehenden Bedrohung stellt sich die Frage, was die bisherigen Sanktionen gebracht haben. Bisher wurde die Invasion weder beendet noch das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung gemildert. Und: Könnte das Öl-Embargo Putin noch stoppen?
Die bisher eingeführten Sanktionen bezeichnet Professor Heiko Pleines "durch die Kombination aus großem Umfang und schneller Einführung" als "bisher einmalig". Pleines leitet die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Die Sanktionen hätten zwar erhebliche wirtschaftliche Folgen für Russland, "können aber natürlich nicht umgehend die russische Armee zum Rückzug zwingen", sagt der Wissenschaftler dem stern. Kurzfristig könne es nur darum gehen, mit den Sanktionen den Preis für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und für offensichtliche Kriegsverbrechen zu erhöhen. Dabei gehe es nicht nur um Russland, sondern auch um mögliche Nachahmer. Langfristig erschwerten die Sanktionen gegen Russland aber auch dessen Kriegsfinanzierung, sagt Liana Fix.
"Wenn dann argumentiert wird, dass Russland wegen der Sanktionen noch aggressiver auftreten könnte, frage ich mich, was Russland denn noch tun kann, außer seine gesamte Armee in die Ukraine zu schicken, das Land zu zerbomben und Kriegsverbrechen zu begehen", gibt Pleine zu Bedenken. Umgekehrt würde das bedeuten, dass es der Ukraine besser erginge, wenn nichts gegen die russische Invasion unternommen werde. Diesbezüglich solle man sich jedoch keiner Illusion hingeben. Eine Eroberung der Ukraine durch russische Truppen würde ein Terrorregime bedeuten, das Morden würde weitergehen. Und: Würde Russland die Ukraine ohne Konsequenzen erobern, würde sich Putin weiter vorarbeiten. Nach Einschätzung des Experten sind Moldau und Georgien die nächsten Kandidaten. "Im russischen Staatsfernsehen geht es auch schon um das Baltikum und um einen Landweg nach Kaliningrad."
Der Westen müsse Russland eindeutig klarmachen, dass die Ukraine nicht einzuverleiben ist und ein souveräner Staat bleibt, sagt auch CDU-Politiker Kiesewetter. Deswegen sei jetzt auch der richtige Zeitpunkt für ein Öl-Embargo. Allerdings seien die Folgen des Embargos alles andere als leicht abzuschätzen – was nach Einschätzung von Pleines auch das Zögern erklären könnte. Klar ist: Russische Exportmengen gehen kurzfristig deutlich zurück. "Fast ein Fünftel der russischen Exporte kommt allein durch die Druschba-Pipeline in die EU", sagt Pleines. Hierfür neue Transportkapazitäten zu finden, sei kaum zu schaffen. Zudem müsse Russland alternativen Abnehmern erhebliche Preisnachlässe gewähren.
Die Folgen des Erdöl-Embargos in Deutschland können nach Experteneinschätzung unterschiedlich ausfallen. Laut Pleines wäre der Osten stärker betroffen. Noch vor kurzem hing Ostdeutschland praktisch komplett am russischen Öl aus der Druschba-Pipeline. Allerdings geht die Bundesregierung bisher davon aus, mögliche Probleme lösen zu können.
Wie es mit der Vorratshaltung bis dahin aussieht, bleibt also weiterhin ungewiss. Volle Regale in den eigenen vier Wänden haben aber zu keiner Zeit jemandem geschadet.