Verbrechen im Ukraine-Krieg "Werden auf keinen Fall schweigen": Berichte über sexuelle Gewalt durch russische Soldaten nehmen zu

Ukraine-Krieg: Die ukrainische Abgeordnete Maria Mezentseva
"Es gibt noch viel mehr Opfer", sagt die Abgeordnete Maria Mezentseva über Fälle sexueller Gewalt im Ukraine-Krieg
© Roses Nicolas / ABACA / Picture Alliance
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine häufen sich die Berichte über sexuelle Gewalt durch russische Soldaten. Ein besonders dramatischer Fall nahe Kiew sorgt international für Aufsehen. Der ukrainische Außenminister spricht von Kriegsverbrechen.

Sie sei in ihrem Haus in einem Dorf in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew gewesen, als sie Schritte hörte und ein Schuss fiel, erzählt die Frau unter dem Pseudonym Natalya der britischen "Times". Augenblicke später habe ihr Mann tot vor ihrer Haustür gelegen und zwei russische Soldaten hätten vor ihr gestanden, einer habe ihr eine Waffe an den Kopf gehalten. "Ich habe Ihren Mann erschossen, weil er ein Nazi war", habe der Schütze gesagt, bevor er und der andere Soldat sie vergewaltigt hätten – während sie im Zimmer nebenan ihren vierjährigen Sohn habe schluchzen hören.

Der Fall von Natalya wurde erstmals letzte Woche öffentlich, als Iryna Venediktowa, die Generalstaatsanwältin der Ukraine, in einem Facebook-Beitrag berichtete, ein russischer Soldat habe einen unbewaffneten Zivilisten getötet und dann wiederholt seine Frau vergewaltigt. Dieser werde nun "wegen des Verdachts der Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges" zur Festnahme gesucht. Kreml-Sprecher Dmitri Peskov wies die Aussage der Generalstaatsanwältin als "Lüge" zurück und sagte vor Reportern in Moskau, dass "man diese Informationen in keinster Weise glaube".

Natalya berichtet, sie sei später ein zweites Mal von den Soldaten vergewaltigt worden und habe es schließlich geschafft, mit ihrem Sohn in die Westukraine zu fliehen. "Ich hätte schweigen können, aber als wir zur Polizei kamen, zwang mich die Schwester meines Mannes, etwas zu sagen, und es gab kein Zurück mehr", wird sie in der "Times" zitiert. "Ich verstehe, dass viele Menschen, die verletzt wurden, schweigen würden, weil sie Angst haben. Viele Leute glauben nicht, dass so schreckliche Dinge passieren."

Ukraine-Krieg: Fälle sexueller Gewalt häufen sich

Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar nehmen die Berichte über sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen in der Ukraine zu. Erst am Dienstag warf der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den russischen Streitkräften vor, Menschen aus der umkämpften Hafenstadt Mariupol gewaltsam zu deportieren und zu vergewaltigen. "Es gibt noch viel mehr Opfer", sagte die ukrainische Parlamentsabgeordnete Maria Mezentseva mit Blick auf den Fall von Natalya gegenüber "Sky News" am Sonntag. Sie erwarte, dass diese ans Licht kommen würden, sobald die Frauen "bereit sind darüber zu sprechen". "Wir werden auf keinen Fall schweigen", versprach die Politikerin.

Ihre Worte erinnern an die ihrer Parlamentskollegin Lesia Vasylenko, die bereits Anfang März vor sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen durch russische Soldaten gewarnt hatte. "Uns liegen Berichte über Gruppenvergewaltigungen vor. Diese Frauen sind normalerweise diejenigen, die nicht fliehen können. Wir sprechen über ältere Menschen (...)", sagte Vasylenko damals.

Ähnliche Schilderungen bestätigt auch die ukrainische Anwältin Kateryna Busol, die für das britische Think Tank Chatham House bereits die Fälle sexueller Gewalt im Zuge der russischen Annexion der Krim 2014 dokumentiert hat. "Diese Berichte nehmen zu, und wir hören, dass sie viel weiter verbreitet sind, als der eine Fall der Generalstaatsanwältin", berichtet Busol in einem Interview mit der "New York Times". Die Anwältin ist selbst kurz nach Kriegsbeginn aus Kiew geflohen und lebt inzwischen in Regensburg.

"Was wir durch Mundpropaganda von Bekannten von Überlebenden aus der [Ukraine] hören, ist entsetzlich", fügt sie hinzu. "Mir wurden Fälle von Gruppenvergewaltigung, Vergewaltigung vor Kindern und sexueller Gewalt nach der Tötung von Familienmitgliedern geschildert." In den meisten Fällen seien die Opfer demnach Frauen gewesen, die aus den von russischen Streitkräften besetzten Städten im Osten und Süden des Landes stammten.

Vergewaltigungen als Kriegswaffe nicht neu

Sexuelle Gewalt in Kriegen ist kein neues Phänomen. Seit es bewaffnete Konflikte gibt, werden Vergewaltigungen gezielt als Waffe eingesetzt, um Frauen wie Männer zu erniedrigen und ganze Gemeinschaften zu zerstören. Darauf wies auch Außenministerin Annalena Baerbock in einer viel beachteten Bundestagsrede vergangene Woche hin und berichtete von ihren Treffen mit Frauen in Srbrenica, die ein solches Schicksal erleiden mussten.

Die systematischen Vergewaltigungen in den Kriegen in Bosnien und Herzegowina sowie in Ruanda haben dazu geführt, dass sie als "Kriegswaffe" beschrieben und international geächtet werden. Seit Juni 2008 erkennen die Vereinten Nationen durch die Resolution 1820 sexualisierte Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit an und fordern einen sofortigen Stopp der Methode als Kriegstaktik.

Doch was die tatsächlichen Konsequenzen angeht, zeigt sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba skeptisch. Anfang März erklärte Kuleba, er habe wenig Vertrauen, dass internationale Organisationen wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag russische Soldaten zur Rechenschaft ziehen würden. "Wenn russische Soldaten Frauen in ukrainischen Städten vergewaltigen, ist es natürlich schwierig, über die Wirksamkeit des Völkerrechts zu sprechen", sagte der Außenminister bei einer Gesprächsrunde in London, an der er virtuell teilnahm.

Bei der Vorstellung des aktuellen UN-Weltbevölkerungsberichts sprach UNFPA-Direktorin Natalia Kanem mit Blick auf die Ukraine von Kriminellen, "die die Tragödie des Krieges als eine Gelegenheit sehen, Frauen und Mädchen ins Visier zu nehmen". Die Autoren warnen davor, dass die sexuelle Gewalt noch zunehmen und die Zahl ungewollter Schwangerschaften in "schwindelerregende" Höhen treiben könnte.

Quellen: "Times", "NY Times", "Guardian", "CNN", "Sky News", "bbp", mit AFP-Material