Der Militärexperte Carlo Masala erwartet einen Angriff der ukrainischen Streitkräfte auf die Großstadt Cherson. Masala sagt am Freitag im stern-Podcast "Ukraine – die Lage", es spreche "einiges dafür, dass in den nächsten Tagen der Versuch unternommen wird, die Stadt einzunehmen". Aus russischer Perspektive sei daher die geplante Evakuierung von Zivilisten sinnvoll. Es sei aber schwer zu sagen, ob der Angriff Erfolg haben werde. Er halte die Wahrscheinlichkeit für relativ groß, der Vormarsch werde aber nicht einfach werden.
Cherson hat hohe strategische Bedeutung für Russland und Ukraine
Denn die Stadt mit ursprünglich fast 300.000 Einwohnern sei strategisch auch mit Blick auf die Krim bedeutend, da die Kontrolle über sie es ermögliche, die Trinkwasserzufuhr auf die von Russland annektierte Halbinsel zu unterbrechen. "Das wäre für die Russen auf der Krim eine große Katastrophe", sagt der Politikprofessor der Bundeswehruniversität München. Deswegen müsse Russland ein Interesse daran haben, seine Stellungen in Cherson zu verteidigen.

Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Bundeswehruniversität München.
Masala sagt, es bleibe das Ziel der Ukraine, ihr gesamtes Territorium zu befreien. Aber auch die ukrainischen Truppen seien erschöpft, und es sei schwer vorauszusagen, wann dies trotz der unglaublichen Kampfbereitschaft der Soldaten Konsequenzen haben werde. Er schließt daher nicht aus, dass sich irgendwann die ukrainische Führung zu Gesprächen mit den Russen bereit erklärt, falls diese ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch kommen. Zugleich nennt er es einen "alten Trick der Russen", Gespräche anzubieten, die aber nur genutzt werden sollten, um den eigenen Truppen die dringend benötigte Atempause zu verschaffen. "Deshalb bin ich sehr skeptisch, was die Ernsthaftigkeit der Versuche angeht, hier zu verhandeln", sagt Masala.
Carlo Masala sieht Dynamik der Ukrainer "erstmal raus"
Nach seiner Einschätzung könnte auch ein Kriegseintritt des Putin-Verbündeten Belarus die russischen Truppen entlasten. "Es würde die ukrainische Armee zwingen, ihre Fronten im Osten und Süden auszudünnen", erklärt er. Dies könnte den Russen auch die Perspektive eröffnen, aus neu befestigten Verteidigungsstellungen heraus wieder Offensiven zur Rückeroberung von Gebieten zu beginnen, die in den vergangenen Wochen an die Ukraine gefallen waren.
Hunger, Ruinen und ganz viel Schrott: das neue alte Leben nach dem Abzug der russischen Streitkräfte

Die Ukrainer hätten die russischen Einheiten in den vergangenen Wochen ständig in Bewegung gehalten. Nun würden die russischen Einheiten Stellungen befestigen und Nachschub heranführen. Wie Masala sagt, ist "die Dynamik, die wir seit Mitte August gesehen haben, auf der ukrainischen Seite erstmal aus dem Kriegsgeschehen raus".