Professor Sachs, seit Jahrzehnten fließen Milliarden Dollar Entwicklungshilfe in die armen Länder - mit dürftigem Ergebnis. Jetzt wollen Sie in den kommenden zehn Jahren die weltweite Armut halbieren und in 20 Jahren sogar ganz abschaffen. Sind Sie tollkühn oder naiv?
Vielleicht sollten wir uns noch einmal klarmachen, dass jeden Tag 20.000 Menschen an den Folgen extremer Armut sterben. Mehr als eine Milliarde Menschen gelten als extrem arm. Das heißt, sie müssen mit ungefähr 70 Cent pro Tag auskommen. Dazu gehört die Hälfte aller Menschen in Afrika. Sie kämpfen jeden Tag neu ums nackte Überleben. Und trauriger Fakt ist auch: Seit Jahrzehnten versucht die Welt zu helfen. Aber dabei ging es oft nur um Ideologie und Schlagworte wie "freier Markt" oder "strenge Haushaltsdisziplin". Es war die falsche Diagnose.
Buch-Tipp
Jeffrey Sachs: "Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt", Siedler Verlag, 480 Seiten, 24,90 Euro.
Und warum haben Sie nun die richtige?
Wir brauchen so etwas wie einen neuen Marshallplan. Alle Länder erlebten irgendwann einmal schwere Zeiten, in denen sie Hilfe brauchten. So half der Marshallplan Europa, wieder auf die Beine zu kommen. In den armen Ländern geht es heute um drei riesengroße Problemfelder: Seuchen, Nahrungsmittel und Infrastruktur. Die Menschen dort brauchen Investitionen, keine groß angekündigten Wirtschaftsreformen. Sie brauchen ganz konkrete Hilfe zur Bekämpfung von Aids und Malaria, Medikamente und Impfstoffe. Sie benötigen Saatgut mit höheren Erträgen und Düngemittel für ihre ausgelaugten Böden. Sie brauchen Lastwagen und Straßen, um Handel treiben zu können. Für eine Milliarde Menschen ist Armut heute eine Falle, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können.
Warum können einige Länder dieser Armutsfalle nicht entkommen, andere aber sehr wohl, wie etwa Indien?
Es ist noch gar nicht so lange her, da war die ganze Welt arm. Noch unsere Ururgroßeltern fristeten wahrscheinlich als arme Bauern ihr Leben. In den vergangenen 180 Jahren begann dann in fast allen Teilen der Welt irgendeine Form des Wirtschaftwachstums...
... am erfolgreichsten mit der Industriellen Revolution in Europa und den USA...
... doch einige Länder konnten auf dieser Entwicklungs-Leiter nicht emporsteigen. Meist sind es schwer zugängliche Länder oder Regionen in Afrika und Asien. Die Bauern dort haben nichts. Weder Straßen noch Strom. Die Menschen sind hungrig, krank, ungebildet. Alles, was sie haben, verbrauchen sie, um zu überleben. Sie können nichts sparen und schon gar nichts investieren. Das müssen andere für sie machen. In einem Land wie China, in dem ja noch viele extrem arme Menschen leben, können die reichen Küstenregionen die armen Gebiete versorgen. Aber viele andere Länder bleiben eben auf Investitionen von außen angewiesen. Doch Experten fordern mittlerweile die Einstellung von Finanzhilfe. Sie füttere Diktatoren und korrupte Bürokratien. Und schlimmer noch: sie mache die Menschen zu Bettlern.
Zur Person
Jeffrey D. Sachs, geboren 1954 in Detroit, ist Ökonom und Professor in Harvard. Er erlangte Bekanntheit als Wirtschaftsberater für Regierungen in Lateinamerika und der UdSSR sowie für den IWF, die Weltbank, und die OECD. Zudem ist Sachs Kofi Annans Sonderbeauftragter für die Armutsbekämpfung.
Entwicklungshilfe sei "schreckliche Hilfe".
Ja. Vor allem, wenn wir unsere eigenen, von dieser Finanzhilfe hoch bezahlten Experten mit ihren guten Ratschlägen losschicken. Blankoschecks darf es nicht mehr geben. Auch Hungerhilfe ist keine echte Hilfe. Ich fordere etwas Anderes: Investitionen in praktische Projekte. Sie müssen überprüfbar und ihr konkreter Nutzen für die Menschen vor Ort nachweisbar sein.
Aber diese Ideen gibt es doch schon lange. Warum sollen sie ausgerechnet jetzt funktionieren?
Weil es bereits Erfolge gibt. Noch vor 40 Jahren waren die Pocken eines der größten Probleme der Menschheit. Dann gab es einen Impfstoff, die nachweisbar wirksame Technik also. Und die Welt verpflichtete sich, die Seuche auszurotten. Auch damals war man zunächst sehr skeptisch, kaum jemand glaubte an einen Erfolg. Und heute? Die Pocken sind in allen Ländern der Welt ausgerottet, selbst in den entlegensten, in den ärmsten Dörfern. So wurden Millionen Menschen gerettet. Und noch ein Beispiel: mit Geldern der privaten amerikanischen Rockefeller-Stiftung begann vor 30 Jahren in Mexiko und Asien die "grüne Revolution"...
... als dort neuartiges Hochleistungssaatgut entwickelt wurde.
Und damit haben die Bauern, wie etwa in Indien, die Erträge ihrer Felder soweit erhöhen können, dass sie eine Chance hatten, der Armut zu entkommen. Diese grüne Revolution können wir heute in Afrika vorantreiben. Ebenso können wir dort heute auch Malaria effizient bekämpfen. Täglich sterben in Afrika 5000 Kinder an Malaria. Wenn wir insektizidbehandelte Netze und Medikamente finanzieren, können wir die Zahl der Todesfälle in vier Jahren halbieren. Und wenn sie nicht mehr fürchten müssen, dass ihre Kinder sterben, dann werden Frauen weniger Kinder gebären. So hätten arme Familien eine Zukunftschance.
Doch wer soll Projekte und Finanzen kontrollieren und verhindern, dass sich korrupte Bürokraten und Diktatoren bereichern?
Die Generationen müssen mit den Regierungen der jeweiligen Länder über die konkrete Umsetzung verhandeln. Wir fordern absolute Transparenz und Überprüfbarkeit, etwa durch private oder UN-Organisationen. Wer das nicht will, braucht erst gar nicht anzufragen. Dazu gehören Länder wie Zimbabwe oder Nordkorea. Im Übrigen zeigt meine Erfahrung: die meisten betroffenen Länder haben längst konkrete Pläne zur Armutsbekämpfung entwickelt, die alle Anforderungen des Westens erfüllen. Aber die reichen Geberländer verweigern die Finanzierung. In diesem Sommer war ich in 18 Ländern. Überall das Gleiche: Konkrete Projekte, aber kein Geld, sie umzusetzen. Trotz aller Versprechungen.
Wie viel Geld benötigen Sie für Ihren Plan, innerhalb der nächsten zehn Jahre die extreme Armut weltweit zu halbieren?
Wir lehnen uns dabei an die UN-Millenniumsziele an, die vor fünf Jahren verabschiedet wurden. Weltweit brauchen wir im kommenden Jahr 135 Milliarden Dollar. Das sind rund 75 Milliarden mehr als bereitgestellt. Danach müsste bis zum Jahr 2015 eine Steigerung auf jährlich 195 Milliarden Dollar erfolgen.
Und wer soll diese zusätzlichen Mittel bereitstellen?
Das Schöne ist: die Geberländer wie die USA und die EU-Staaten haben es längst versprochen. Sie haben sich ja schon lange verpflichtet, innerhalb der nächsten zehn Jahre bis zu 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe bereitzustellen. Dieses Ziel haben die EU-Länder, also auch Deutschland, gerade noch einmal bekräftigt. Das ist sehr wichtig. Doch jetzt müssen den Worten Taten folgen.
Und was tut das größte Geberland, die USA?
Es erfüllt seine Verpflichtungen nicht. Die USA müssten für die Hälfte der ausstehenden Summe aufkommen - 38 Milliarden Dollar zusätzlich im nächsten Jahr. Davon ist mein Land sehr weit entfernt. So haben wir uns wieder einmal außerhalb der Weltgemeinschaft gestellt.
Aber Präsident Bush hat die Finanzhilfe für arme Länder erhöht und ein großes Aids-Bekämpfungsprogramm angekündigt.
Das liefert nette Schlagzeilen, aber keinen Cent mehr Geld. Wir geben fünf Prozent unseres Bruttosozialproduktes für den Militärhaushalt aus und nur 0,16 Prozent für Entwicklungshilfe. Die meisten Menschen in meinem Land wissen das natürlich nicht.
Doch die USA führen den weltweiten Krieg gegen den Terror, heißt es.
Der Terrorismus ist nicht die einzige Bedrohung der Menschheit. Wir müssen den 11. September in die richtige Perspektive rücken. An diesem Tag starben 3000 Menschen einen tragischen, sinnlosen Tod. Doch in Afrika sterben jeden Tag 10.000 Menschen einen tragischen, sinnlosen Tod allein durch Aids, Malaria und Tuberkulose. Es ist ein gewaltiger Trugschluss, zu glauben, das US-Militär könne die Sicherheit der Amerikaner gewährleisten. Die Armut bedroht auch unsere nationale Sicherheit: Denn Armut bleibt nicht an einem Ort. Seuchen brechen aus oder es kommt zu gewaltsamen Konflikten, wie etwa in Darfur im Sudan. Kriege entstehen, Staaten zerfallen, wie etwa in Somalia. Vom Debakel im Irak einmal ganz abgesehen.
Wenn die USA nicht mitziehen, was soll der große UN-Armutsgipfel in New York Mitte September bringen?
Die Welt muss den USA jetzt endlich deutlich machen, dass wir unserer Verantwortung nicht nachkommen. In der Vergangenheit haben Menschen ja immer wieder gegen Barbarei gekämpft. Sie haben die Sklaverei abgeschafft, Kolonialismus und Faschismus besiegt. Die Beseitigung der Armut in der Welt ist die Herausforderung für unsere Generation. Und zugleich eine ganz große Chance. Denn damit können wir auch der Demokratie und der globalen Sicherheit dienen. Noch nie waren die Voraussetzungen für einen Erfolg so gut. Ich bin überzeugt, wir können es innerhalb der nächsten 20 Jahre schaffen. Wir haben die Wahl. Wir müssen uns entscheiden.