So richtig wussten die prüden Fernsehleute nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Er wolle Barack Obama am liebsten "die Nüsse" abschneiden, hatte Bürgerrechtler Jesse Jackson in einer Sendepause seinem Gesprächspartner geflüstert. Dumm nur, dass sein Mikrofon noch offen war und der Ausfall mitgeschnitten wurde. Nun suchten die TV-Kommentatoren nach allen möglichen Umschreibungen für die Beleidigung. Von Kastration war da die Rede, von einem Angriff auf Obamas Männlichkeit. Darüber ging die eigentliche Relevanz des Angriffs auf den demokratischen Präsidentschaftskandidaten beinahe unter.
Jackson, der sich prompt für seinen verbalen Ausfall entschuldigte, führte sich auf wie ein Leitwolf, dem ein junger Rivale das Rudel gestohlen hat. Der Mann, der einst zu den engsten Vertrauten von Martin Luther King gehörte, der sein ganzes Leben der Schwarzen-Bewegung widmete, der zweimal einen Anlauf auf das Weiße Haus nahm, aber nicht zuletzt wegen seiner Hautfarbe nie eine wirkliche Chance besaß, gehört auf einmal zum alten Eisen. Genauso wie auch Jeremiah Wright, der Ex-Marine und Prediger in jener Kirche in Chicago, von der sich Obama im Laufe seines Wahlkampfes distanzieren musste.
Sie haben eines gemeinsam: Sie verstehen die Sprache nicht, die Obama spricht. Oder empfinden sie als arrogant, beleidigend. Obama rede von oben herab über die schwarze Bevölkerung, hatte Jackson sich bei seinem Gesprächspartner beschwert, eh er ihn verbal und mit einer Handbewegung wissen ließ, was er mit dem jungen Schnösel gerne machen würde. Damit meint er zum Beispiel die Ansprache, die Obama am Vatertag im Juni hielt, als er den schwarzen Erzeugern vorwarf, sich zu wenig um ihre Familien zu kümmern. So spricht er nicht erst, seit er sich um die Präsidentschaft bewirbt. Vor zwei Jahren etwa prangerte Obama den "Anti-Intellektualismus" an, der in den schwarzen Gemeinden herrsche und dass schwarze Schüler ihren Kumpels vorwerfen würden, sie benähmen sich "wie Weiße", wenn sie sich um gute Noten bemühten.
Schwarze in Amerika noch immer benachteiligt
Nur wenige in den schwarzen Gemeinden sprechen so wie Obama, der steinreiche Schauspieler Bill Cosby ist eine der wenigen Ausnahmen. Und ihm werfen sie dann vor, er habe ob seines vielen Geldes die Bodenhaftung verloren. Er wisse nicht, wie der Alltag "normaler" Familien aussehe. Leute wie Jackson halten dagegen an den alten Erklärungsmustern fest: Die Schwarzen erreichen weniger als die Weißen, weil die ihnen keine Chance geben. Die Statistiken belegen, dass Schwarze in Amerika nach wie vor sehr viel eher die Schule abbrechen, schneller im Gefängnis landen, eher unter der Armutsgrenze leben. Und wenn sie aufsteigen, verdienen sie weniger als ihre weißen Kollegen. Doch über die Ursachen sagen die Zahlen wenig.
Lorenzo Morris, Politologe an der Eliteschule Howard University in Washington D.C. sagt: "Jackson spricht auf eine Weise, die eine Zeit widerspiegelt, in der Schwarze wenig Aufmerksamkeit von den großen Medien bekommen haben. Obama spricht wie jemand, der es gewohnt ist, von der weißen Gemeinschaft angehört zu werden." Der New Yorker Bürgerrechtler Al Sharpton, der schlaue Fuchs, ebenso wie Jackson und Cosby zwei Jahrzehnte älter als Obama, schlug sich übrigens in dem Streit sogleich auf die Seite des Senators aus Illinois. "Seine Äußerungen zum Vatertag waren mutig und richtig", sagte Sharpton, "die Bürgerrechtsbewegung des 21. Jahrhunderts zieht die Regierung zur Rechenschaft und besteht auf persönliche Verantwortung."
Jacksons Verbal-Ausfall hat Obama eher genützt
Was nicht heißen soll, dass Obama nicht vielen aus der schwarzen Bevölkerung vor die Köpfe stößt. Doch dieses Risiko nimmt er ebenso bewusst in Kauf wie das, bei seinem Schwenk zur politischen Mitte die Parteilinke zu düpieren. Am Ende, so seine Kalkulation, ist es ihnen wichtiger, die Republikaner aus dem Weißen Haus zu vertreiben, als wegen Grundsatzfragen gegen ihn zu stimmen. Und das, obwohl viele Schwarze die Sorge treibt, dass es für sie noch schwieriger wird, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, wenn Obama erst im Weißen Haus regiert. Der Sohn einer weißen Studentin aus Kansas und eines Schwarzen aus Kenia wäre schließlich der lebende Beweis dafür, dass man alles schaffen kann in diesem Land, wenn man nur will, ungeachtet der Hautfarbe.
Unter dem Strich dürfte Jacksons verbaler Ausfall Obama jedenfalls eher genützt als geschadet haben. Durch ihn ist die Trennlinie noch schärfer geworden. Auf der einen Seite die schwarzen Bürgerrechtler, die ihre größten Schlachten in den 60ern führten. Ihnen begegnet die weiße Mehrheit mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Unbehagen. Auf der anderen Seite ein junger, Harvard-gebildeter Politiker, der um seine Hauptfarbe kein Aufhebens macht. Das muss auch so bleiben, will Obama bei den weißen Arbeitern eine Chance haben. Steffen Schmidt, Politologe an der Iowa State University, beschreibt den Effekt des kleinen Skandals so: "Er hilft Obama zu beweisen, dass er kein schwarzer Führer ist, sondern einfach ein demokratischer Präsidentschaftskandidat. Zyniker fragen schon, ob Jackson seinen Kommentar absichtlich losgelassen hat, um Obama zu unterstützen."