Es lohnt sich in diesen Stunden, immer mal wieder einen Schritt zurückzutreten und die Situation in den USA auf sich wirken zu lassen. Es könnte sonst passieren, dass wir verpassen, die Tragweite zu erfassen – wie so oft in der Ära Trump, in der die ständige Steigerung der Unglaublichkeiten, die vom Weißen Haus ausgehen, binnen vier Jahren zwangsläufig für eine Abstumpfung beim Beobachter gesorgt hat.
Nun steht es zwar noch nicht fest, ob Trump – wie vom früheren stern-Chefredakteur Andreas Petzold in seinem Podcast "Vater. Tochter. Weltgeschehen" befürchtet – den "Kampf gegen die Realität gewinnt", aber sturmreif hat er die älteste Demokratie der Welt allemal längst geschossen.

"Ohrenbetäubende Stille" rund um die Welt
Die niederländische Tageszeitung "de Volkskrant" hat leider Recht, wenn sie schreibt, dass Trumps beispiellose Brüskierung der amerikanischen Wähler und des Wahlsystems kaum zu internationalem Wirbel geführt habe: "Wo die Welt gewöhnlich lauthals von Schande spricht, wenn sich einige afrikanische Präsidenten mit Einschüchterungen und unbegründeten Wahlbetrugs-Anschuldigungen an die Macht klammern, herrschte jetzt ohrenbetäubende Stille."
Aber noch schlimmer ist die Situation, die Trump im eigenen Land angerichtet hat und die in diesem Herbst so deutlich wird wie selten zuvor. Nicht nur scheint es seinen Anhängern, und damit immerhin grob der Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung, sogar egal, dass ihr Präsident sich nicht um die Stimme(n) des Volkes schert – zumindest egal genug, um seine zweite Amtszeit quasi einzufordern. Nein, die ganze vorhersehbare Posse, die Trump in der Wahlnacht angezettelt hat, entblößt die Zerrissenheit und Abstumpfung der USA auf beispiellose Weise.
USA: Die ramponierten Staaten von Amerika
Und die Proteste vor den Wahlbehörden in Maricopa County, aber auch in Detroit, sind dafür ein starkes Bild: Bewaffnete Menschen wollen die Auszählung stoppen und müssen von der Polizei unter Kontrolle gehalten werden. Anders gesagt: Könnte es ein stärkeres Symbol für die ramponierten Staaten von Amerika geben als die (angedrohte) Gewalt gegen Wahlhelfer, die sich die Nacht mit der Auszählung von Stimmen um die Ohren schlagen?
Natürlich haben wir das alles schon mal gesehen – ursprünglich zum Beispiel im Jahr 2000 in Florida, wo derartiger Aufruhr in letzter Konsequenz sogar Erfolg hatte und das mysteriöse Raunen vom "Wahlbetrug" zudem erstmals jene Taktik diktierte, der sich Trump anno 2020 bedient. Und natürlich ist bewaffneter Protest für viele Amerikaner per se erstmal kein Grund zur Panik.
Aber das ändert nichts daran, wie schockierend, beängstigend und fragil die Situation in den USA so kurz nach einer Wahl ist, wie bedroht dort – allen Beteuerungen über ihre Stabilität zum Trotz – die Demokratie zu sein scheint. Im schlimmsten Fall sind die Ereignisse, die sich aktuell vor den Augen der Welt entfalten, die Vorboten einer (mindestens) politischen Katastrophe, im besten Fall muten sie – um einen Trump-Tweet von gestern zu zitieren – "sehr seltsam" an. In jedem Fall sind sie einem großartigen Land und seinen vielen wunderbaren Menschen nicht würdig.