Verhandeln mit der Hamas Ex-Spitzenagent Gerhard Conrad: "Wer die Geiseln hat, der hat den Joker"

Flugblätter machen auf verschleppte angehörige aufmerksam, sie liegen im Sand, auf Ihnen stehen Kerzen
Zeichen im Sand: Die jüdische Gemeinde von Santa Barbara, Kalifornien, erinnert am Strand an die rund 240 Menschen, die am 7. Oktober nach Gaza verschleppt wurden
©  Amy Katz / action press
Gerhard Conrad, langjähriger Agent des Bundesnachrichtendienstes, über Verhandlungen mit der Hamas – und die Frage, wie Israel die Verschleppten freibekommen könnte.

Herr Conrad, die palästinensische Terrororganisation Hamas hält derzeit rund 240 Geiseln gefangen, Israel will sie befreien. Sie haben schon selbst mit der Hamas um Leben und Freiheit einer Geisel gerungen. Wie beurteilen Sie die heutige Lage?
Sie hat eine völlig neue Dimension. Sie ist in keiner Weise vergleichbar mit der in den 2000er-Jahren, als ich mit der Hamas über die Freilassung des verschleppten Soldaten Gilad Schalit verhandelt habe. Am 7. Oktober hat die Hamas eine militärische Operation quasi im Brigadeformat durchgeführt. Sie hat an etlichen Stellen die Grenzbefestigungen durchbrochen und sich in kürzester Zeit auf festgelegte Ziele verteilt: auf 24 Ortschaften und Kibbuzim, dazu ein Rave-Festival.

Portrait Gerhard Konrad
Gerhard Conrad, 69, war lange Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND). In dieser Funktion verhandelte der promovierte Islamwissenschaftler auch mit Terrororganisationen wie der Hamas über den Austausch von Geiseln und Häftlingen. In seinem Buch "Keine Lizenz zum Töten" hat er diese Geheimoperationen beschrieben. Später wurde Conrad Chef des BND-Leitungsstabs und des EU-Stabs für nachrichtendienstliche Analyse. Seit seiner Pensionierung 2019 berät er die Münchner Sicherheitskonferenz.
© Patrick Junker / stern

Die Hamas hat vor allem Zivilisten angegriffen. Was könnte der Grund sein?
In den letzten Jahren gab es offenbar einen Sinneswandel bei der Hamas, hin zu einem präzedenzlosen groß angelegten Terrorangriff mit "shock and awe", mit Schrecken und Furcht. Offenbar um dem Konflikt eine neue Dynamik zu geben. Attacken auf Zivilisten gehören bewusst dazu. Dahinter steckt unter anderem ein Mann namens Jahja Sinwar. Er war ursprünglich Hamas-Geheimdienstler und zuständig für interne Säuberungen. Er hat 22 Jahre in Israel im Knast gesessen. Nach seiner Freilassung 2011 im Austausch gegen Gilad Schalit wurde er 2017 Führer der Hamas in Gaza.

Die Hamas will ihre Geiseln in Verhandlungen als Druckmittel einsetzen. Aber wird sie in der Lage sein, sie während der israelischen Bombardements zu schützen?
Der Untergrund in Gaza ist ausgehöhlt wie ein Schweizer Käse. Es gibt teilweise zwei oder sogar drei übereinanderliegende Tunnel in verschiedene Richtungen. Man kann es dort eine Weile aushalten und ist weitgehend geschützt. Oberirdisch wäre das nicht möglich.

Erschienen in stern 47/2023