Very British "Wir sind alle schuldig"

Wirtschaftskrise, Politskandale und eine schwache Regierung: Die Briten haben derzeit nicht viel zu Lachen. Gute Zeiten für den preisgekrönten Journalisten Evan Davis. Er erklärt seinen Landsleuten, was in ihrem Land vorgeht. Und lockt selbst Wirtschaftsgrößen vor das Mikrofon, die sich nur sehr selten öffentlich äußern.

Seine Stimme hören Millionen jeden Morgen im BBC-Radio. Seine Spezialität sind Fragen, die keiner erwartet, ein bisschen fordernd, ein bisschen mokierend, immer bohrend. Evan Davis ist einer der Moderatoren der politischen Flaggschiff-Sendung "Today" im BBC-Radio, seit Jahren wird er als einer der besten Wirtschaftsjournalisten in Großbritannien mit Preisen überhäuft.

Hier können Sie Evan Davis hören

In Deutschland ist die Sendung "The Bottom Line" auf BBC World News Freitags um 9:30 Uhr und Sonntags um 7:30 Uhr zu sehen, im BBC World Service Radio Sonntags um 10:06 Uhr und um 19:06 Uhr. Den Podcast der Sendung kann man sich im Internet anhören. Das "Today"-Programm finden Sie hier.

Spannende Zeiten also für einen Journalisten, der auch in seiner Fernsehshow "The Bottom Line" versucht, den Briten ihren eigenen Kapitalismus verständlich zu machen. Um zu erklären, was zwischen verstaatlichten Banken und dem Spesenskandal mitsamt Abrechnungen für Pornofilmen und Entenhäuschen in seinem Land gerade vorgeht, holt Davis etwas weiter aus: "Wir alle arbeiten und leben unter bestimmten Prämissen. Zum Beispiel gehen wir alle jeden Tag an Bettlern vorbei, die auf der Straße liegen. Ich tue das auch. Aber vielleicht wird es irgendwann völlig inakzeptabel sein, Menschen so links liegen zu lassen. Und unsere Handlungsweise von heute erscheint in einem ganz anderen, sehr schlechten Licht."

So seien die Abgeordneten im Unterhaus jahrelang davon ausgegangen, dass ihnen die volle Summe der Spesenzahlungen zustehe als eine Art zweites Einkommen - und Quittungen nur für die Buchhaltung wichtig seien, sagt Davis. Wer so denke, der lässt sich eben auch die Reinigung eines Burggrabens bezahlen oder mehrere Toilettensitze, um die Höchstgrenze des Spesenkontos auszuschöpfen. "Das wurde zum Problem, als diese stille Übereinkunft plötzlich in der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden musste", sagt Davis.

Cornelia Fuchs

London ist der Nabel der Welt und Europa immer noch "der Kontinent". stern-Korrespondentin Cornelia Fuchs beschreibt in ihrer wöchentlichen stern.de-Kolumne das Leben zwischen Canary Wharf und Buckingham Palace, zwischen Downing Street und Notting Hill.

So wirkten die Abrechnungen vieler Abgeordneten sehr windig, in einigen Fällen sogar kriminell. "Und doch haben die meisten Parlamentarier mit gutem Gewissen gehandelt", sagt Davis. Ähnliches gelte im Übrigen für die Banken vor der großen Krise - solange jeder davon ausging, dass mit neuen Finanz-Instrumenten der Aufschwung sich in immer neue Höhen schrauben würde, solange waren Menschen, die vor Problemen warnten, nur seltsame Außenseiter.

"Wir sind alle schuldig - die Zentralbanken, das Finanzministerium, die Rating-Agenturen und auch die Wirtschaftsjournalisten", sagt Davis. Er selber hat vor einem überheizten Immobilienmarkt gewarnt, vor dem Export-Überhang aus China, vor einer zu großen privaten Schuldenlast - doch eine Bankenkrise hat er nicht vorausgesagt: "Wir alle haben einzelne Probleme erkannt. Aber wir haben die fatalen Verbindungen zwischen diesen Dingen nicht aufgezeigt. Und natürlich bedauere ich dies nun."

Die Finanzkrise war ein weiterer Ansporn für Davis, Wirtschaft und seine Feinheiten noch verständlicher werden zu lassen für Normalsterbliche. In seiner Fernsehshow versucht er, Wirtschaftsgrößen den Jargon der Vorstandsetagen auszutreiben. "Sie sollen reden wie ein Gast bei einem netten Abendessen", erklärt Davis das Konzept. Er fragt seine Gäste, wie man Familie und Arbeit verbindet, oder wie man unter Druck schnell gute Entscheidungen treffen kann.

"Die Meisten haben Angst vor zu großer Offenheit und flüchten sich daher in Banalitäten, die sie von ihren Presseabteilungen eingebläut bekommen", sagt Davis. Seine offene Art und sein Ruf, niemanden vor dem Mikrofon bloßzustellen, hilft ihm, Vorstände des Mobilfunkunternehmens Orange-Mobile, des Pharmariesen GlaxoSmithKline, des Transportunternehmens Eurostar und des Motorenherstellers Rolls-Royce-Motors für die Sendung zu gewinnen, die sich sonst nur sehr selten öffentlich äußern.

Dabei weicht Davis den unangenehmen Fragen nicht aus. Er glaubt zum Beispiel, dass London bisher zu wenig Reue und Demut gezeigt hat angesichts der Turbulenzen, die unter anderem von der City ausgegangen sind und die Weltfinanzen durchgeschüttelt haben: "Die vergangenen drei Jahre waren keine großartige Zeit für den säbelschwingenden anglo-amerikanischen Finanzplatz."

"Wir Briten waren sicher zu arrogant

Leider habe die Krise die bestehenden Konflikte zum Beispiel zwischen Großbritannien und Deutschland weiter verschärft und keine Diskussionen angestoßen, die über Vor- und Nachteile der ländereigenen Kapitalismus-Varianten reflektierten: "Wir Briten waren sicher zu arrogant, was den Erfolg unserer Banken anging. Aber Frankreich, zum Beispiel, hat ebenso angeberisch herausgestellt, wie toll ihr Sozialsystem sei - ohne Probleme dabei zuzugeben." Davis hält Großbritannien und Deutschland eigentlich für ideale Partner: "Der eine hält die Leinen kurz, der andere hat die Kreditkarte immer in der Hand. Die ganze Welt kann nur hoffen, dass die Deutschen endlich mehr Geld ausgeben und weniger sparen!" Und Großbritannien müsse auf der anderen Seite wieder lernen, wie man im produzierenden Gewerbe Geld verdient, auch eine Rolle für Wirtschaftsjournalisten wie ihn, wenn auch keine einfache: "Die nächsten Jahre werden sehr, sehr mühsam, für alle."