Die Szenen vor dem britischen Parlament erinnerten an Demonstrationen der ersten Frauenbewegung. Oder, auf der anderen Seite der Straße, an amerikanische Anti-Abtreibungs-Mahnwachen. Dort schwenkten die "Pro-Life"-Anhänger Plakate, die im Kampf "Für das Leben" auseinandergerissene, blutige Föten zeigten. Die "Pro-Choice"-Fraktion hatten sich dagegen auf die Farbe Rosa geeinigt. "Verteidigt 24 Wochen" - stand darauf geschrieben. 24 Wochen sind seit einer Gesetzesänderung 1990 der letzte Zeitpunkt, in der eine Schwangere in Großbritannien noch abtreiben darf.
Vor der Abstimmung waren es vor allem die Abtreibungsgegner, die aufgefallen waren, hatten sie doch den Oppositions-Führer David Cameron, den politischen Mann der Stunde, auf ihrer Seite. Der wollte für einen der fünf Veränderungsvorschläge stimmen, der den Zeitrahmen, in der eine Abtreibung möglich ist, von 24 auf 22 Wochen verringert.
Wo kommt denn diese Debatte plötzlich her?
Für viele Briten war es erstaunlich, was dort für eine Debatte wieder hervorkam, und welche Risse sie aufzeigte in einem Land, das viele Einheimische als durch und durch säkular bezeichnen würden. In Großbritannien steht der ausgewiesene Atheist und Wissenschaftler Richard Dawkins seit Monaten auf der Bestsellerliste, der ehemalige Premier Tony Blair wurde durchaus mit Häme überzogen, als er nach seinem Rücktritt öffentlich seinen Glauben und seine Konvertierung zum Katholizismus bekannt gab. Auf die Frage, warum er dazu nicht früher gestanden habe, antwortete Blair in einem Interview: "Weil ich nicht als Verrückter gelten wollte!"
Es ist nicht schick in Großbritannien, seine Religiosität offen zur Schau zu tragen. Wer glaubt, tut dies besser im Stillen. Gordon Brown, zum Beispiel, ist in einem Pfarrer-Haushalt aufgewachsen - und auch, wenn dies in seinem Fall für alle möglichen Charakter-Interpretationen herangezogen wird, erzählt er selber doch wenig und äußerst ungern über seine religiösen Ansichten.
Cornelia Fuchs
London ist der Nabel der Welt und Europa immer noch "der Kontinent". stern-Korrespondentin Cornelia Fuchs beschreibt in ihrer wöchentlichen stern.de-Kolumne das Leben zwischen Canary Wharf und Buckingham Palace, zwischen Downing Street und Notting Hill.
Doch in den vergangenen Wochen stieg plötzlich auch der Glaube in das Bewusstsein der Briten. Für viele unerwartet tauchte plötzlich dieser Riss auf, der nicht mehr politisch Andersdenkende auseinander dividiert, sondern Gläubige und solche, die sich von einer Religion die Politik nicht vorschreiben lassen wollen. So wie der Oppositionsführer David Cameron für eine Reduzierung im Abtreibungs-Gesetz stimmte, so stimmten die Verkehrsministerin Ruth Kelly und zwei andere Mitglieder aus Gordon Browns Kabinett ebenfalls für eine kürzere legale Abtreibungs-Zeit. Alle drei sind katholisch.
Noch am Tag vor der Abstimmung zeigte der TV-Sender "Channel 4" in der renommierten politischen Dokumentations-Serie "Dispatches" einen Film über christliche Fundamentalisten auf dem Marsch auf das Unterhaus, die Bibel fest in der Hand. Anklänge an den Einfluss der christlichen Rechten in der amerikanischen Politik wurden laut, als eine Anwältin dabei gefilmt wurde, wie sie Abgeordneten vorformulierte Gesetzesvorschläge unterbreitete. Ihr Ziel: Das Abtreibungs-Gesetz erst einschränken, dann ganz abschaffen.
Zwei Millionen Briten sympathisieren mit dem Kreationismus
Diese Neu-Evangelikalen glauben im Übrigen nicht nur, dass Abtreibung immer Mord ist. Sie erzählen ebenso freizügig, dass der Islam eine Erfindung Satans sei, dass Homosexuelle genauso als Sünder gelten müssen wie Mörder und Pädophile, und dass die Welt ungefähr 6000 Jahre alt sein dürfte. Letzteres lehren sie auch in staatlich geförderten Religions-Schulen im Fach "Wissenschaft". Zwei Millionen Menschen in Großbritannien sollen angeblich mit einer solch radikalen christlichen Auslegung sympathisieren. Und die Demonstranten und Lobbyisten der Anti-Abtreibungs-Bewegung hatten sich den gestrigen Tag ausgesucht, um einen ersten, großen Sieg zu feiern.
Doch sie wurden enttäuscht. Alle fünf Anträge auf Änderung des Abtreibungsgesetzes wurden vom Unterhaus abgelehnt, der letzte Antrag, der vom Oppositionsführer David Cameron im Voraus als der Vernünftigste gelobt wurde, verlor mit 71 Stimmen - noch nicht einmal eine Reduzierung des zeitlichen Rahmens um zwei Wochen konnte die Mehrheit überzeugen.
Was dagegen überzeugt zu haben scheint, sind die klaren medizinischen Stellungnahmen. Vom Verband der Gynäkologen bis zur Assoziation der Perinatal-Mediziner haben alle Wissenschaftler zu verstehen gegeben, dass sie eine Gesetzesänderung für unnötig halten. Erst im vergangenen Monat hatten Studien zur Lebensfähigkeit von extremen Frühchen keine Veränderungen zur Situation von 1990 gezeigt, zu der das Gesetz zuletzt angepasst wurde. Auch heute haben Föten vor der 24. Schwangerschaftswoche keine realistische Chance darauf, das Krankenhaus lebend zu verlassen. Die Abtreibungsgegner mussten also ihre Plakate unverrichteter Dinge wieder einpacken.
Und, dies ist wohl eine der größten Überraschungen: Gordon Brown, dem Premierminister im Pech, hat die zweitägige Mammut-Abstimmung über das neue Embryonen- und Fertilitätsgesetz neue politische Macht gegeben. Er hatte sich zuvor entschieden und deutlich gegen eine Veränderung ausgesprochen. Es scheint als hätte er - nach einer Durststrecke parlamentarischen Ungehorsams - diesmal die Mehrheit im Parlament hinter sich gebracht.