In Afghanistan ist der Winter eingebrochen. Das Wetter ist extrem. Was bedeutet das für die Menschen?
Die Situation ist leider sehr unübersichtlich. Wegen der geringen Sicherheit in vielen Regionen, ist es sehr schwer, einen Überblick über die Not zu gewinnen. Wir wissen, dass im Norden und Nordwesten schwere Kältewellen Dutzende Menschenleben gekostet haben. In den südlichen Regionen um Kandahar haben wir vor allem durch die Kriegssituation keinen Zugang zu den Not leidenden Menschen. Dabei brauchen vor allem die Kriegsflüchtlinge dringend Hilfe. Sobald die Menschen bei dieser Kälte die Häuser verlassen, sind sehr verletzlich und angreifbar. In den letzten Tagen hatten wir hier Minus 20 Grad. Die Lage ist prekär.
Was kann das Rote Kreuz tun, um die schlimmste Not zu verringern?
Wir versuchen in erster Linie den Opfern und Flüchtlingen des Krieges zu helfen. Wir versorgen mehrere Tausend Familien und unterstützen die örtlichen Krankenhäuser, vor allem in Fragen der ersten Hilfe und der Medikamentenversorgung. Daneben kümmern wir uns auch um unsere klassische Aufgabe, die Kriegsparteien dazu zu bewegen, die Grundregeln des Krieges einzuhalten. Zum Beispiel geht es um die Behandlung der Kriegsgefangenen. Die Rechte von Gefangenen sind in der Genfer Konvention festgeschrieben und wir stehen in engem Kontakt mit allen Kriegsparteien, um diese Rechte durchzusetzen.
Das heißt, Sie pflegen Beziehungen zu den Taliban?
Ja, das müssen wir. Der Kontakt ist zwar sehr begrenzt und nur zu gewissen Exponenten der Taliban möglich, aber wir brauchen diesen Dialog, um die grundlegenden Rechte und Regeln durchzusetzen. So wie wir es auch mit der afghanischen Armee oder den Nato-Truppen machen.
Zur Person
Franz Rauchenstein
ist stellvertretender Delegationschef des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Kabul. Mit 69 Ausländern und 1158 einheimischen Mitarbeitern vor Ort, steht dem Roten Kreuz in Afghanistan ein Jahresbudget von rund 37,5 Millionen Euro zur Verfügung. Von diesem Geld werden in erster Linie die Opfer und Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten unterstützt. Außerdem kümmert sich das Rote Kreuz um den Zugang zu medizinischer Versorgung und sauberen Trinkwasser. Zunehmend sind die Helfer auch mit der Betreuung von Entführungsopfern befasst.
Im Vergleich zu den vergangenen Monaten, scheint die Zahl der Entführungsfälle drastisch gesunken zu sein. Täuscht dieser Eindruck oder hat sich die Sicherheitslage tatsächlich verbessert?
Ja und Nein. Richtig ist, dass in den vergangenen Wochen die Entführungsfälle abgenommen haben. Das liegt aber in erster Linie am Wintereinbruch. Die Hälfte des Landes liegt in einer Höhe von über 2000 Metern über dem Meeresspiegel. Das heißt, es ist bitterkalt und überall liegt Schnee. Das grenzt die Mobilität der Menschen, auch die der Taliban, stark ein. Es gibt aber weiterhin viele Entführungen. Das ist in Afghanistan ein bisschen wie ein Sport geworden. Problematischerweise registriert das die internationale Presse nur, wenn es sich um Ausländer handelt. Über die vielen Entführungen von Afghanen wird einfach nicht berichtet.
Die Kämpfe und Entführungen werden im Frühjahr wieder zunehmen?
Das ist anzunehmen. Wenn die logistischen Wege der Taliban über die Ostgrenze nach Pakistan wieder frei sind, gehe ich davon aus, dass die Aufständischen den bewaffneten Konflikt wieder verstärkt aufnehmen werden.
Worauf müssen sich die Nato-Truppen einstellen?
Es ist sehr schwierig zu sagen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass es ähnlich wie im letzten Jahr sein wird. Keine der beiden Seiten wurde wesentlich geschwächt und es werden auch weiterhin Stammeskonflikte zu einer gewalttätigen Eskalation beitragen. Ich rechne mit einer ähnlichen Intensität, wie im vergangenen Jahr. Mit 7000 Kriegsopfern war 2007 das bisher schlimmste Kriegsjahr seit der Invasion. Ich befürchte, es geht auf diesem Level weiter.
Die kanadische Regierung droht mit einem Truppenabzug, sollten die Nato-Partner nicht ihre Truppenanzahl erhöhen. Würden mehr Truppen Afghanistan stabilisieren können?
Wenn man die Situation in Afghanistan mit jener im Kosovo vergleicht, ist die Truppenpräsenz hier in Afghanistan natürlich unverhältnismäßig gering. Es ist für die afghanische Armee allein unmöglich, diese riesigen Gebiete zu kontrollieren und so zu einer Stabilisierung beizutragen. Man kann auch keine staatliche Verwaltung aufbauen, wenn man nicht einmal das Gebiet sichern kann. Vor allem im Süden ist das derzeit nur marginal möglich.
Die Mitarbeiter des Roten Kreuzes sind jeden Tag mit einer ständigen Bedrohung und extremen Lebensumständen konfrontiert. Wie geht man damit um?
Das ist sehr schwierig. Wer nach Afghanistan kommt, geht ein Risiko ein. Man muss jederzeit mit Attentaten und Selbstmordanschlägen rechnen. Deshalb versuchen wir uns so wenig wie möglich zu bewegen. Wir schränken auch unsere private Bewegung aufs Maximum ein. Wir haben Methoden entwickelt, gewisse Risiken zu vermeiden. Indem die Leute zum Beispiel zu uns kommen oder indem afghanische Freiwillige vor Ort helfen, die einem deutlich geringerem Risiko von Attentaten und Entführungen ausgesetzt sind.
Das Leben eines Ausländers in Afghanistan ist nichtsdestotrotz sehr hart. Weil wir es immer wieder erleben, dass Ausländer gezielt attackiert werden. Das macht einem natürlich Angst.
Wenn Sie drei Wünsche frei, für Ihre Arbeit vor Ort hätten, welche wären das?
Erstens Zugang zu den Kriegsopfern, wie wir das verlangen. Zweitens die Gesundheitsversorgung im Süden verbessern zu können. Und der dritte Wunsch wäre überall dort unsere Hilfeleistungen erbringen zu können, wo die Leute am verletzlichsten sind. Also auch in den schwer zugänglichen Gebieten. Das tut sehr weh, dass wir den Menschen dort nicht helfen können.
Belastet Sie und Ihre Mitarbeiter dieses Gefühl der Hilflosigkeit?
Absolut. Wir erhalten viele Informationen, über die Notlagen der Menschen in bestimmten Regionen. Dass wir aus Sicherheitsgründen da nicht zur Hilfe eilen können, tut uns sehr weh. Wir sind doch da um zu helfen und die Schmerzen zu lindern, können aber in weiten Teilen des Landes nichts ausrichten.