365 Tage nach der Wahl Jung, ledig, engagiert, sucht...

  • von Sebastian Kemnitzer
... die Normalität im Abgeordnetenleben: Florian Bernschneider, 23, und Sven-Christian Kindler, 25, sind vor exakt einem Jahr in den Bundestag gewählt worden. Der eine für die FDP, der andere für die Grünen. Eine erste Bilanz.

Das Google-Duell ist klar entschieden. Sven-Christian Kindler, Grüne, hat 147.000 Hits. Florian Bernschneider, FDP, kommt auf gerade mal 4900. Und die politischen Umfragen ... da sieht es bei den Grünen derzeit auch viel besser aus als bei der FDP. So schnell können sich politische Verhältnisse ändern. Vor exakt einem Jahr hatte die FDP noch Oberwasser, und zwar reichlich. "Politik richtet sich viel zu oft nach Umfragen", sagt Bernschneider etwas schmallippig zu stern.de. "Klar machen wir momentan eine gute Figur", strahlt Kindler. Aber man müsse weiter mit Inhalten überzeugen.

Vor 365 Tagen wurden die beiden gewählt, kurz darauf zogen sie ins Parlament. Sie sind die "Küken" des Betriebs: Bernschneider, 23, ist der jüngste, Kindler, 25, der zweitjüngste unter den Abgeordneten. Gleichwohl klingen beide schon verdächtig "professionell". Sie kommentieren die Umfrageergebnisse so, wie Politiker eben Umfrageergebnisse kommentieren. Lassen sich junge Menschen innerhalb eines Jahres zu Technokraten deformieren?

Kindler ist in einem linksliberalen Haushalt groß geworden, inklusive Reformkost und Pershing-II-Protest. Der Generationenkonflikt mit den Eltern fiel aus wegen ist nicht. Der Sohn lebt heute, Achtung Klischee, in einer WG im Multikulti-Bezirk Kreuzberg. Er ernährt sich, Klischee 2, vegan. Und er spricht seine Mitarbeiter, Klischee 3, mit "Du" an. Aber er kann, wenn es um seine Leib- und Magenthemen geht, beispielsweise die Energiepolitik, auch mal richtig losholzen. "Das, was wir gerade erleben, das ist eine Konterrevolution. Eine Konterrevolution für das Atomkapital und gegen die Erneuerbaren Energien", sagte er jüngst im Bundestag. Kurzes Augenbrauenheben in den Regierungsfraktionen.

Wo bleibt der Rock'n Roll?

Bernschneider hat es auch mal mit Losholzen probiert, aber eher unfreiwillig. Damals, als er noch Pressesprecher der Jungen Liberalen in Niedersachsen war, musste er einen 12-seitigen Leitantrag zu Medienpolitik verteidigen. Darin stand die Forderung, irgendwo unter ferner liefen, dass 16-Jährige Pornos konsumieren und TV-Sender Pornos ausstrahlen können sollten. "Das war ein Crash-Kurs in Krisenkommunikation", erinnerte sich Bernschneider jüngst im "Kölner Express". "Heute passe ich besser darauf auf, was ich sage."

Der junge Liberale trägt, Achtung Klischee, gerne Anzug und Krawatte. Er hat, Klischee 2, eine eigene Wohnung im teuren Bezirk Mitte. Und natürlich spricht er seine Mitarbeiter, Klischee 3, mit "Sie" an. Trotzdem gibt es diese verblüffende Parallele zwischen Kindler und Bernschneider: Beide sind Ökonomen, Bernschneider beendet sein Studium an diesem Mittwoch, Kindler hat es schon länger in der Tasche und bereits zwei Jahre als Controller bei "Bosch" gearbeitet. Beiden ist die Ausbildung wichtig, und muss es auch sein: Garantien für Bundestagsmandate gibt es nicht.

Fleißig sind sie, strebsam, beide Kinder der Ära Helmut Kohl und wohlgelitten im Klima des umfassenden Pragmatismus, das Kohls Erbin Angela Merkel verbreitet. Die jeweiligen Fraktionsvorsitzenden reagieren verzückt auf ihren Nachwuchs. "Obwohl sein Fachgebiet Zivil- und Freiwilligendienst irrsinnig komplex ist, hat er sich schnell in die Materie eingearbeitet und vertritt die Fraktion nach außen hörbar und kompetent", sagt Birgit Homburger über Bernschneider zu stern.de. "Dass Kindler sich im Bundestag gleich die Welt der Zahlen gegriffen hat, zeugt von einem gehörigen Willen zur Gestaltung der Realität", lobt Renate Künast ihren Youngster, der im mächtigen Haushaltsausschuss sitzt. Soviel Anerkennung ist auch bitter: Wo, bitteschön, bleibt der Rock'n'Roll?

Politikbesessene in einem Land

Kindler, Hobbyfußballer, Abteilung offensives Mittelfeld, und Bernschneider, der früher Politik als Hobby angegeben hat und nun selbst Vollzeitpolitiker ist, kennen sich aus Niedersachsen. Kindler hat den Wahlkreis Rotenburg und Soltau-Fallingbostel, Bernschneider Braunschweig. Dazwischen liegen rund 150 Kilometer, zu wenig, um nicht zu registrieren, dass in der eigenen Alterskohorte noch so ein Politikbesessener im Land unterwegs ist. Übereinander sagen beide kein böses Wort.

Über die jeweils andere Partei natürlich schon. "Die Lobby-Klientel-Politik der Regierung ist so krass, das regt viele Leute auf", sagt Kindler. "Ich kann gut in den Spiegel schauen", kontert Bernschneider. "Die Grünen müssen ja mittlerweile beraten, wie sie ihr Wahlprogramm wählbarer machen." Beide wirken reichlich unaufgeregt, wenn sie solche Sachen sagen - das gehört halt zum politischen Geschäft. Kindler arbeitet in der "Oslo-Gruppe" und beim "Institut für Solidarische Moderne" in Frankfurt, er schraubt an Konzepten für eine rot-rot-grüne Mehrheit. Bernschneider ist bürgerlich durch und durch, sein Fixstern ist schwarz-gelb. Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre das eine Art Kriegsgrund gewesen. Heute geht jeder seiner Arbeit nach.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Die meisten Wochenenden sind weg

Natürlich immer in der Sorge, dass sie vom Politikmonster Berlin vollständig verschlungen werden. "Private Termine muss ich viel mehr planen", stöhnt Kindler. Das "überwältigende Gefühl", erstmals Parlamentarier zu sein, habe sich schnell verflüchtigt. Auch Bernschneider spürt das Korsett, das sein noch junges Leben einschnürt. "Bisher habe ich es ganz gut geschafft, mir immer mal wieder ein Wochenende freizuschaufeln", sagt er. Was aber auch heißt: Die meisten Wochenenden sind weg.

Es ist schwer, normal zu bleiben, wenn man Anfang 20 ist, 7668 Euro brutto im Monat verdient und sich jederzeit eine schwarze Limousine vom Bundestags-Fahrdienst kommen lassen kann. Noch sträuben sich beide, das für normal zu halten. Am Dienstag bricht das zweite Jahr für die Abgeordneten Bernschneider, FDP und Kindler, Grüne, an.

Mitarbeit: Lutz Kinkel