Am 60. Jahrestag des Kriegsendes hat Bundespräsident Horst Köhler an die Opfer der NS-Herrschaft und des Krieges erinnert. Gleichzeitig lobte er die Deutschen jedoch dafür, die richtigen Lehren aus der Schreckensherrschaft gezogen zu haben. "Wir haben uns als Nation wiedergefunden", sagte Köhler bei der zentralen Gedenkfeier von Bundestag und Bundesrat im Plenarsaal des Reichstags in Berlin. "Wir werden in der Welt geachtet und gebraucht."
Weizsäckers Rede als Maßstab
Köhlers Rede war mit Spannung erwartet worden. Vor zwanzig Jahren, am 40. Jahrestag, hatte Köhlers Vorgänger Richard von Weizsäcker Maßstäbe gesetzt für einen verantwortungsvollen Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Der Bundespräsident enttäuschte die Erwartungen nicht. In seiner Ansprache, die er mit dem Titel "Begabung zur Freiheit" überschrieben hatte, gelang es ihm, einen weiten Bogen zu schlagen - vom Bekenntnis zur besonderen deutschen Verantwortung für die Gräueltaten der Nazis hin zu einem selbstbewußten Bekenntnis zu einer neuen demokratischen Gesellschaft in Deutschland. Die Deutschen wissen, dass sie sich schwer vergangen haben, so lautete die Botschaft des Staatsoberhaupts - und sie haben die Lehren aus diesen Verbrechen gezogen.
Zu Beginn seiner Rede erinnerte Köhler an die Opfer des Krieges - von den sechs Millionen ermordeten Juden bis hin zu den deutschen Opfern. "Wir gedenken der sechs Millionen Juden, die mit teuflischer Energie ermordet wurden, oft nach Jahren öffentlich sichtbarer Entrechtung", sagte Köhler.
"Es gibt keinen Schlussstrich"
Er verwies darauf, dass die Schrecken nicht vergessen werden dürften, Spuren hinterlassen - auch nach sechzig Jahren. "Im Grunde wirkt das Unglück, das Deutschland damals über die Welt gebracht hat, bis heute fort", sagte Köhler - und gedachte ausdrücklich auch der deutschen Opfer. "Wir trauern um alle Opfer, weil wir gerecht gegenüber allen Völkern sein wollen - auch gegenüber unserem eigenen".
Köhler sagte, die Deutschen fühlten "Abscheu und Verachtung" gegenüber all jenen, die für diese Verbrechen an der Menschheit Verantwortung trügen. Gleichzeitig bekannte sich der Bundespräsident zu der Verantwortung der Deutschen, die Wiederholung einer derartigen Katastrophe zu verhindern. "Wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder dazu kommt", sagte er. "Es gibt keinen Schlussstrich."
"Unser Land hat sich von seinem Inneren her verändert"
Einen Großteil seiner Rede verwandte Köhler darauf, auf die Erfolge bei der Demokratisierung in Nachkriegsdeutschland zu verweisen. Anders als im von der Sowjetunion unterdrückten Osteuropa sei es in Westdeutschland gelungen, mit Hilfe der Alliierten eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. "Deutschland ist heute ein anderes Land als vor 60 Jahren", sagte der Bundespräsident. "Unser Land hat sich von seinem Inneren her verändert - und das ist ein Anlass zur Freude." Die Gesellschaft habe sich gründlich verändert, sie sei "durchlüftet" worden, sagte Köhler. Der Bundesrepublik sei es gelungen, den Menschen durch Freiheit und Demokratie ihre Würde wiederzugeben - dadurch diene sie auch den nunmehr von Unterdrückung befreiten Menschen Osteuropas als Vorbild.

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Deutschland habe, so der Bundespräsident, Lehren aus der Vergangenheit gezogen. "Das Erreichte ist undenkbar ohne die Lehren, die wir gezogen haben, und es ist das Ergebnis ständiger Anstrengung", sagte er. Auch das deutsche Eintreten für die europäische Einigung sei geprägt von einem klaren Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Geltung der Menschenrechte.
Thierse lobte Umgang mit Vergangenheit
Zuvor hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Gedenkfeier im Plenarsaal des Bundestags eröffnet. In seiner Rede erinnerte der SPD-Politiker an alle - auch die deutschen - Opfer der NS-Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges. "Die Trauer um die Opfer in den verwüsteten und bombardierten Städten ist nicht nur legitim, sondern sie gehört zur vollständigen Erinnerung." Auch Thierse lobte den Umgang der Deutschen mit der Vergangenheit. Der ehrliche Umgang mit der verbrecherischen Vergangenheit sei mittlerweile zu einem Teil der kollektiven Identität der Deutschen geworden, sagte er.
Thierse ging auch noch einmal auf die Bedeutung der europäischen Einigung ein, die eine direkte Konsequenz aus den Schrecken des Krieges gewesen sei. Thierses Verweis dürfte auch vor dem Hintergrund der Debatte über die EU-Verfassung zu verstehen sein. Der Bundestag soll die Verfassung am kommenden Donnerstag ratifizieren.
Thierse lobte indirekt all jene, die sich gegen einen Aufmarsch der rechtsextremen NPD in Berlin wehren. "Ich grüße und begrüße die Menschen am Brandenburger Tor auch stellvertretend für alle, die mithelfen, dass weder unsere Straßen und Plätze noch unsere Sprache und unser Denken noch einmal Feinden der Demokratie, dumpfen Nationalisten und Rassisten überlassen bleiben." Für diese Passage erntete Thierse lauten Beifall.