Der Muschhof liegt einsam und eingebettet von sanften Hügeln in der Allgäuer Voralpenlandschaft. Ausnang, Sankt Leonhard oder Oberlandholz heißen die nächsten Dörfer, und sie bestehen meist nur aus einer Kapelle und wenigen Gehöften. Die Straßen hier haben weder Mittelstreifen noch Begrenzungspfosten und gehen direkt über in die Weiden, auf denen satte, braune Milchkühe den selten vorbeifahrenden Autos hinterherstieren.
Mit zarten Fingern zupft er die Gitarre
Auf einer dieser Weiden, nicht weit vom Muschhof entfernt, verblutete am Freitag, dem 13. Oktober 2006, der 39- jährige Zimmermann Siegfried Schneider. Niedergestreckt mit einem Klappmesser. "Er hat mich abgestochen, die Sau", wollen Bewohner des Muschhofs als die letzten Worte des Opfers noch gehört haben. Dann herrschte Stille. Die "Sau", die war noch in der Nacht festgenommen worden.
Ludwig A.* ist ein schmächtiger Mann, 55 Kilo leicht, mit langen, grau gewellten Haaren und gepflegtem Vollbart, seine 54 Jahre haben schon einige Falten auf Stirn und Wangen hinterlassen. Mit den schmalen, zarten Fingern zupft Ludwig A. gewöhnlich die Saiten der Gitarre. Er ist Lehrer an der Musikschule von Kempten. Hat den Kriegsdienst verweigert. Isst kein Fleisch aus Respekt vor den Tieren. Lebte eine Zeit lang in Poona, dem indischen Aschram der Bhagwan-Sekte. Und verirrt sich eine Fliege in sein Klassenzimmer, öffnet Ludwig A. das Fenster und begleitet sie mit freundlichen Gesten persönlich hinaus.
Weit ab von gesellschaftlichen Normen
Diese fleischgewordene Arglosigkeit sitzt neun Monate nach dem Tod auf der Weide auf der Anklagebank des Landgerichts Ravensburg und fährt sich nervös durch die Haare. "Totschlag" steht auf der Tagesordnung des Gerichts. Drei Richter und zwei Schöffen versuchen, sich ein Bild von jener Nacht auf dem Muschhof zu machen, in der Siegfried Schneider starb. Doch mit jedem neuen Zeugen, der im Lauf des Prozesses auftritt, rückt der Muschhof weiter weg in eine andere, eine den Richtern fremde Welt.
Vor rund zehn Jahren war der Muschhof als landwirtschaftliches Anwesen von seinen Besitzern aufgegeben worden. In den abgelegenen Hof zog eine Wohngemeinschaft, deren Mitglieder, weit ab von sozialer Kontrolle und gesellschaftlichen Normen, ihre eigene Lebensform suchten. "Wie alt sind Sie?", fragt beispielsweise Richter Franz Strasser einen dieser Zeugen; doch der zuckt nur mit den Schultern. "Sagen Sie es uns wenigstens ungefähr", bittet der Richter und gibt sich mit "Anfang 50" zufrieden.
Hof wurde nach Drogen durchsucht
Im Oktober 2006 wohnen auf dem Muschhof acht Männer und drei Frauen. Einige von ihnen leben in Bauwagen, die auf einer Wiese hinter dem Hof stehen, die anderen teilen sich das Bauernhaus. Unter ihnen auch Siegfried Schneider, gelernter Zimmermann, der mit seiner Freundin Anita nicht recht in die Kifferszene passt, für die der Hof zur Heimat geworden ist. Haschisch-Schwaden wehen fast täglich durch die Gemeinschaftsküche oder die mongolische Jurte, die im Garten als Musik- und Meditationsraum dient. Der Polizei in Leutkirch ist der Muschhof bekannt; mindestens einmal wurde er nach Drogen durchsucht.
Siegfried Schneider hält nicht viel von seinen oft bis in die Mittagszeit schlafenden Hausgenossen. Morgens steht er früh auf, um auf die Baustellen zu kommen, an den Wochenenden erholt er sich mit Freundin Anita und deren Tochter mit dem Motorboot auf dem nahen Bodensee. Und statt grünen Tees trinkt er lieber ein Bier. Auf Fotos sieht man den kräftig gebauten Zimmermann meist lachend. "Er war der gutmütigste, der liebste und der beste Sohn, den man sich vorstellen kann", sagt seine Mutter Helga über ihn. Mitbewohner wie Manfred H., der sich vor Gericht als "Maler und Philosoph" ausgibt, werden von dem kernigen Handwerker eher spöttisch belächelt.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
"Philosophische Runde" im Stuhlkreis
Einmal im Monat lädt Manfred H., der Haus- und Hofphilosoph, in die Jurte zur "Philosophischen Runde". Im Stuhlkreis sitzen an solchen Abenden rund zwei Dutzend Frauen und Männer bei Kerzenschein und reflektieren über das Leben. Wer spricht, hält einen Holzstab in der Hand und darf von niemandem unterbrochen werden. Ludwig A. ist am 13. Oktober auch mit dabei, zum ersten Mal, und eigentlich nur, weil am Ende einer solchen Runde noch Musik gemacht wird; er hat seine Gitarre mitgebracht. Doch zunächst möchte auch er erst einmal nur reden. "Eigenreflexion" ist das Thema des Abends, und als Ludwig A. den Stab hält, spricht er darüber, dass nur derjenige, der sich selbst gut kennt, in Freiheit handeln kann.
19 Frauen und Männer sitzen im Rund der Jurte, ein Ofen spendet Wärme und ein Joint die nötige Entspannung. Dankend lehnt Ludwig A. die Zigarette ab. Er raucht nicht. Er trinkt auch nur selten. Er braucht seine Sinne, um Musik zu machen. An diesem Abend hat sich auch Siegfried Schneider zur "Philosophenrunde" gesellt. Schon leicht betrunken, murmelt er etwas von "Punks" und dass er auch einmal einer gewesen sei. Nach zweieinhalb Stunden "Eigenreflexion" steht Schneider auf und erklärt: "Große Scheiße" sei das hier, und selten habe er "solche Schwätzer" erlebt.
Die Verfolgungsjagd
Dann erklingen afrikanische Trommeln (Djemben), australische Pfeifen (Didgeridoos), Frauen singen mit Obertonstimme, und Ludwig A. hat seine Gitarre ausgepackt. Endlich ist er dort, wo er hinwollte, in seiner Welt aus Klang und Rhythmus. Bis ein Fußtritt gegen sein Schienbein ihn unterbricht. Der wütende Zimmermann hat sich den durchgeistigten Gitarrenspieler ausgesucht, an ihm lässt er seine Wut über die "Schwätzer" aus. Ein Gerangel entsteht, Ludwig A. geht zu Boden und zieht ein Pfefferspray aus der Hosentasche. Spray und ein Messer trägt er seit Jahren mit sich, nachdem er beim Joggen mehrfach von Hunden angefallen worden war.
Gereizt durch das Spray, gerät Siegfried Schneider erst recht in Rage, stürzt sich auf Ludwig A. und schlägt wild um sich. Nur mühsam kann er von drei "Philosophen" am Boden festgehalten werden. Doch dann reißt er sich los und rennt dem flüchtenden Gitarrenlehrer in die Dunkelheit hinterher. "Den bring ich um", haben Zeugen noch gehört. Kurz darauf liegt er selbst tot im Gras.
Gegenwehr aus Todesangst
Unter Tränen schildert der Angeklagte vor Gericht, wie er in Todesangst vor dem daherstürmenden Zimmermann sein Klappmesser gezogen und gegen die niederschmetternde Faust gestochen habe. Das Messer, so hatte der medizinische Gutachter später festgestellt, muss am Ellenbogen abgerutscht sein und dann den Körper getroffen haben, genau die Pfortader, die das Blut zur Leber transportiert. Der Stich war tödlich.
Fünf Wochen sass Ludwig A. in U-Haft, dann wurde er vorläufig freigelassen. Sein Chef, Leiter der Musikschule, hatte sich für ihn eingesetzt. Einen friedliebenderen und talentierteren Menschen kenne er nicht, versicherte er dem Gericht. Seither unterrichtet Ludwig A. wieder und öffnet den Fliegen das Fenster. Als der Staatsanwalt am fünften Verhandlungstag vom Vorwurf des Totschlags abrückt und auf Freispruch plädiert, weint auch die Mutter des Opfers, die als Nebenklägerin den Prozess verfolgt. Und als Richter Franz Strasser den Freispruch wegen Notwehr verkündet, weint nun noch die neben ihm sitzende Schöffin. Die Jurte im Garten ist inzwischen abgebaut, Anita, die Freundin des Zimmermanns, ist vom Muschhof weggezogen. Es gibt keine "Philosophenrunde" mehr, und der Stuhlkreis ist aufgelöst.
"Nie wieder ein Messer mit mir herumtragen"
Dabei geht von Ludwig A. wohl keine Gefahr mehr aus. Nach dem Freispruch sitzt er noch ganz erschöpft von der Verhandlung im Café Kupferle, zupft ein paar Flusen vom Jackett und lässt sie gedankenverloren über seinen vegetarischen Salat fallen. Dann sagt er: "Ich werde nie wieder im Leben ein Messer mit mir herumtragen."
*Name von der Redaktion geändert