Krisen: die kann sie, die haben ihre Kanzlerschaft geprägt. Finanzkrise. Eurokrise. Flüchtlingskrise, die sogenannte – ein verbaler Fehlgriff, meint sie, denn: Flüchtlinge seien keine Krise, sondern Menschen. Coronakrise. Angela Merkel, die Krisenkanzlerin, einst Klimakanzlerin. Doch eines war sie nie: Historikerin.
Nach 5860 Tagen endet ihre Amtszeit. Am Mittwoch wird Olaf Scholz als 9. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland vereidigt. Sein Anfang markiert ihren Abschied, das Ende einer 16 Jahre andauernden politischen Ära. Was bleibt?
"Bilanzen sollen andere machen", sagte die Bald-Altkanzlerin in ihrer letzten Sommerpressekonferenz.
Ihr größter Erfolg, ihr größter Fehlschlag? "Das ist letztlich eine historische Debatte, die andere führen sollen", antwortete sie im Abschiedsinterview der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Ob es ihr an Visionen gefehlt habe? "Jetzt versuchen Sie, mich in die Betrachtungsweise einer Historikerin zu führen, die ich nicht bin", parierte sie im Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung".
Nein, Geschichte ist nicht ihre Wissenschaft. Merkel ist Naturwissenschaftlerin, obschon sie "die Dinge immer vom Ende her denke", was der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an ihr schätzt. "Respice finem", alles vom Ende her denken, eine Losung, die sie sich einst selbst ausgab: "Selbst ich, die ich nicht Latein gelernt habe, habe mir das gemerkt", sagte sie.
Nun ist es da, das Ende. Wie wird ihre Amtszeit in Erinnerung bleiben? Weil Merkel angeregt hat, dass das vermutlich Historiker beurteilen müssten, haben wir mal drei gefragt. Das sind ihre Antworten.
"Sie hinterlässt vor allem Orientierungsbedarf"
"Angela Merkel steht, als protestantische Frau aus der DDR in einer westdeutsch-männlich geprägten CDU mit ihren Netzwerken, für eine beispiellose Karriere in der deutschen Politik", so der Historiker Andreas Rödder von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zum stern. Darüber hinaus sei sie die Kanzlerin einer historisch einzigartigen Häufung von schweren Krisen gewesen, "darin Helmut Schmidt vergleichbar, nur waren die Krisen noch heftiger."

Als Besonderheit ihrer Amtszeit macht Rödder die "Unaufgeregtheit und ein unprätentiöses Auftreten" aus, mit dem sie das Gegenbild zu "testosterongesteuerten Männern" verkörpert habe. "Dies alles plus Energiewende und Migrationspolitik machte sie zur Projektionsfläche eines linksliberalen Milieus meinungsbildender Mittelschichten, das sie für eines der ihren hielt." Zugleich sei sie zur "Projektionsfläche einer sich radikalisierenden Rechten und ihrer Verschwörungstheorien" geworden.
Allerdings sieht der Historiker auch wenig Substanz hinter den Projektionen. Sie sei der "Situation des Augenblicks" gefolgt, aber keiner längerfristigen Strategie. "Das Ergebnis waren grundlegende Widersprüche und Abhängigkeiten", so der Historiker: "der Widerspruch zwischen dem 'humanitären Imperativ' der Migrationskrise von 2015 und dem Abkommen mit der Türkei machte die EU von der Türkei abhängig; die Energiewende führte Deutschland in Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen und zu erheblichen Spannungen mit westlichen und östlichen Partnern; die Konzentration auf Exporte nach China machte Deutschland außenpolitisch abhängig." Demokratische Meinungsbildung sei nicht ihre Sache gewesen, sie habe die CDU auf "eine reine Machtsicherungsmaschine" reduziert – wenngleich immer zwei dazu gehörten. "Das Ergebnis ist nicht nur eine inhaltlich entkernte CDU, sondern auch eine sprachlose bürgerliche Rechte in Deutschland", meint Rödder. "So hinterlässt Angela Merkel nach 16 Jahren vor allem Eines: Orientierungsbedarf."
"In vielen Bereichen kann es nur besser werden"
"Genderpolitisch war Merkels Kanzlerschaft ein Fortschritt", so der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn zum stern. "Endlich eine Frau. Uneitel und klüger als die meisten Männer, die sie umgaben." Ansonsten blickt Wolffsohn kritisch auf Merkels Amtszeit.

Sie habe Begriffe wie "Europäische Werte" benutzt, ohne Inhalte zu benennen. Ihr "Humanitärer Imperativ" habe 2015 in der Flüchtlingsbewegung schön und wegen des Kant-Anklangs ("Kategorischer Imperativ") gebildet geklungen. "Die Folgen? Nicht gerade human, wenngleich ungewollt: Mehr Terror, Rückenwind für den Brexit, weiterer Rechtsruck in Polen und Ungarn, Wiederbelebung der AfD."
Ihre politische Strategie habe einer "Konkurrenten-Kopie" geglichen, wodurch sie ihre Partei "zertrümmerte". Man "verdanke" ihr mit Horst Köhler und Christian Wulff (beide CDU) zwei "konturlose Bundespräsidenten", den "brillanten" Joachim Gauck wollte sie verhindern. Ihre Außenpolitik sei ein "Desaster" gewesen, meint Wolffsohn: "USA: Nette Worte mit Bush jr. Obama und Biden. Ergebnis? 0. Kräche mit Trump. Gute PR. Ergebnis 0. Die Ukraine durch North Stream 2 stranguliert, Russland hofiert und zugleich distanziert. Zu China nicht Fisch, nicht Fleisch. Iran: Den konventionellen Vormarsch gefördert, dessen Nuklearisierung nicht verhindert. Afghanistan und Mali: Ohne Strategie sinnlos das Leben unserer Bürger in Uniform geopfert." Das Fazit des Historikers: "In vielen Bereichen kann es nur besser werden."
"Vermutlich bleibt vor allem, was die Person Merkel alles normalisiert hat"
Eine Prognose sei schwierig, doch: "Wie wir über Merkel denken, wird auch maßgeblich davon abhängen, wie anders ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger mit unserer Republik umgehen", so der Historiker und Autor Moritz Hoffmann. Mit Angela Merkel sei "ein neuer Machttypus ins Amt" gekommen.

Als Kanzlerin "ohne besonders klare inhaltliche Kanten" habe sie immer wieder Themen vom Gegner übernommen und ihm damit Wahlkampfthemen entzogen. Fortschrittsthemen, die CDU und CSU gebremst hätten, seien unter ihrer Regierung endgültig umgesetzt worden: die Aussetzung der Wehrpflicht, der Atomausstieg, die Flüchtlingspolitik 2015. "Das alles waren Themen, die von einer rot-grünen Regierung niemals hätten umgesetzt werden können, ohne Gefahr zu laufen, nach der nächsten Wahl rückgängig gemacht zu werden", so Hoffmann. Jedoch habe ihre Strategie der "asymmetrischen Mobilisierung" gleichzeitig dazu geführt, "dass Themen, zu denen Merkel nicht gezwungen wurde, liegenlassen wurden: Digitalisierung, Gesundheitssystem, Sicherheitspolitik wurden beispielsweise ignoriert, und es wird eine Weile brauchen, bis Deutschland da wieder aufgeholt hat."
Was bleibe, vermutet Hoffmann, sei das, "was die Person Merkel alles normalisiert hat, ohne dass sie es je zu ihrem 'Unique Selling Point' gemacht hätte": in der DDR aufgewachsen, ausgebildet und sozialisiert, eine Frau, mit enttäuschendem Wahlergebnis erstmals ins Amt gekommen – und entgegen vieler Vorstellungen lange Zeit im Amt verweilt. "Eine ganze Generation junger Menschen wird sich jetzt erst einmal daran gewöhnen müssen, dass auch ein Mann Kanzler sein kann", so Hoffmann, "wir alle werden uns erst wieder daran gewöhnen müssen, dass es eine starke Oppositionsfraktion im Bundestag gibt." Beides halte unsere demokratischen Köpfe fit. "Das ist erst einmal gut."