Man hätte es nicht vermutet. Wenn am Montagabend die Grünen-Bundestagsfraktion Jürgen Trittin aus der Politik verabschiedet, hält Angela Merkel die Festrede. Es ist ein bemerkenswertes Ereignis in jeder Hinsicht: Erstmals seit Langem verlässt Merkel für einen öffentlichen Auftritt wieder die Schreibstube, in der sie an ihren Memoiren werkelt.
Ausgerechnet die Grünen haben sie eingeladen, die doch eigentlich täglich darüber klagen, sie müssten die Versäumnisse von 16 Jahren Merkel-Herrschaft aufarbeiten. Jene Grünen auch, über die man sich in der Post-Merkel-Union gerade nicht einig ist, ob sie nun Freund oder Feind sein sollen, schlimmster Gegner in der Ampel-Koalition oder potenzieller Partner für eine eigene Regierung nach der nächsten Bundestagswahl.
Und dann sind da natürlich noch die beiden Protagonisten.
Angela Merkel und Jürgen Trittin sind – vorsichtig formuliert – von sehr verschiedenem Temperament. Sie: kaum aus der Ruhe zu bringen. Er: bisweilen aufbrausend, scharf und verletzend. Sie gehören unterschiedlichen Parteien an, ihre Sozialisation – er in der Studentenbewegung im Westen, sie als Physikerin im Osten – könnte nicht unterschiedlicher sein. Phasenweise haben sie sich politisch hart bekämpft.
Trittin über Merkel: "Kaltmamsell der Atomwirtschaft"
Auch in den letzten Jahren ihrer Kanzlerschaft sparte Trittin nicht mit Kritik an Merkel: Noch 2019 fiel er im Bundestag auf, als er eine Rede der Kanzlerin zur Energiepolitik mit dem Zwischenruf unterbrach: "Sie haben 14 Jahre nichts gemacht!". Und 2021 resümierte er in einem Interview: "Frau Merkel hat das Land durch die Mitte gesteuert, dabei ist aber unglaublich viel liegen geblieben."

Und doch haben Angela Merkel und Jürgen Trittin Respekt füreinander entwickelt. Im Plenum des Bundestages sah man sie bisweilen auf den hinteren Plätzen für ein Schwätzchen beisammensitzen. Sie haben viel erlebt, gegeneinander – und miteinander. Eigentlich hätten sie auch gerne mal miteinander regiert. Doch dazu kam es nicht.
In den Anfängen verpassen sie sich knapp. Angela Merkel ist von 1990 an vier Jahre lang Frauenministerin im Kabinett von Helmut Kohl, Jürgen Trittin Bundes- und Europaminister in Niedersachsen. 1994 wechselt Merkel ins Umweltministerium, Trittin wird Bundesvorsitzender der Grünen. Und das Schlachtfeld ihrer ersten Auseinandersetzung liegt in Gorleben.

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Wiederholt setzt Merkel, eine überzeugte Anhängerin der Atomkraft, gegen massive Proteste Transporte von Castor-Behältern ins Zwischenlager im Wendland durch. Im Juli 1997 bringt Merkel eine Änderung des Atomgesetzes auf den Weg, mit dem der Bestand der Kernkraftwerke gesichert werden soll. Trittin findet, die Ministerin sei den Kraftwerksbetreibern willfährig zu Diensten und nennt sie eine "Kaltmamsell der Atomwirtschaft”.
Grüne Ideen: Angela Merkel beißt auf Granit
Doch es gibt in diesen Jahren erste umweltpolitische Berührungspunkte der CDU-Politikerin mit den Grünen, auch wenn Merkel damit in den eigenen Reihen auf Granit beißt. Merkel will eine Sommersmog-Verordnung durchsetzen, scheitert jedoch an der CSU und Helmut Kohl. Gleiches gilt für ihr Vorhaben einer Ökosteuer. Die kommt erst im Jahre 2000 unter Rot-Grün, jetzt mit einem Umweltminister Jürgen Trittin. Merkel, mittlerweile CDU-Vorsitzende, ist plötzlich dagegen. Sie nennt die Ökosteuer nun eine K.o.-Steuer.
Im März 2001 gerät Trittin mit Merkels CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer aneinander. Meyer, schon Merkels zweiter Generalsekretär nach Ruprecht Polenz und gerade mal ein halbes Jahr im Amt, hat einen Beschluss des Grünen-Parteitags kritisiert, das Asylrecht in der Form von vor 1993 wiederherzustellen. Trittin reagiert darauf mit dem Satz: "Laurenz Meyer hat die Mentalität eines Skinheads und nicht nur das Aussehen." Außerdem mokiert sich der Grüne über Meyers Bekenntnis, er sei stolz, Deutscher zu sein. "Das ist so die Flachheit, der geistige Tiefflug, der jeden rassistischen Schläger in dieser Republik auszeichnet", sagt Trittin.
Merkel reagiert empört. Die Union, namentlich der damalige Fraktionschef Friedrich Merz, verlangt von Kanzler Gerhard Schröder, Trittin aus dem Kabinett zu entlassen. Das kann sich der Kanzler nicht leisten. Schröder fordert Trittin auf, sich zu entschuldigen. Das tut er und bleibt im Amt – sehr zum Unmut Merkels, die sagt, "eine lapidare Entschuldigung" reiche nicht aus. Sie irrt.
Trittin warb für Joachim Gauck als Bundespräsident
Im Mai 2010 macht Trittin Merkel das Leben bei einem Thema gleich doppelt schwer: Bundespräsident Horst Köhler, 2004 von Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle als schwarz-gelbes Signal ins Amt gehievt, sagt in einem Interview, ein Staat mit solchen Außenhandelsinteressen wie Deutschland müsse wissen, dass "im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege". Köhler nimmt damit vorweg, was die Bundeswehr 2024 im Roten Meer gegen Angriffe der Huthi-Rebellen im Jemen tatsächlich leisten wird. Doch 2010 betritt er damit noch politisch stark vermintes Gelände.
Trittin kritisiert Köhler heftig: "Es ist mit unserer Verfassung nicht zu vereinbaren, Kanonenbootpolitik zu betreiben", sagt der Grünen-Fraktionschef. Und man brauche auch keine "lose rhetorische Deckskanone an der Spitze des Staates". Köhler tritt zurück. Einige Wochen später lässt er in einem Interview erkennen, dass er unter anderem die Kritik von Trittin als so respektlos erlebt habe, dass Schaden vom Amt nur noch mit seinem Abgang abzuwenden gewesen sei.
Doch damit nicht genug. Es ist Trittin, der für die Nachfolge Köhlers den Namen Joachim Gauck ins Spiel bringt. Er spricht darüber mit SPD-Chef Sigmar Gabriel, der schickt Merkel eine SMS und fragt die Kanzlerin, ob sie sich Gauck, der Sympathien bei Rot-Grün, der FDP wie auch in der Union genießt, als Konsenskandidaten vorstellen könne. Kann sie nicht. Merkel setzt den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff als Staatsoberhaupt durch – gegen viel Kritik in der Öffentlichkeit. Die Kanzlerin steht nun als Parteisoldatin da, die Interessen der CDU vor das Staatswohl stelle. Und nach dem Rücktritt Wulffs muss sie sich beugen: Gauck wird Staatsoberhaupt, gegen den Willen Merkels.
Wie Trittin 2013 Schwarz-Grün killte
Was Merkel und Trittin gleichermaßen trennt und verbindet, ist der Atomausstieg. Rot-Grün setzt ihn durch, Merkel macht ihn 2010 mit der FDP rückgängig. 2011, nach dem Reaktorunglück von Fukushima, vollzieht Merkel die Wende. Trittin triumphiert. Schwarz-Gelb kehre genau zu den Beschlüssen zurück, die Rot-Grün vereinbart habe. In der Grünen-Fraktion setzt er sich dafür ein, dem Ausstiegsplan Merkels zuzustimmen.
Im Oktober 2013 sondieren Union und Grüne nach der Bundestagswahl eine Koalition. Merkel, bei ihrem überragenden Wahlsieg nur knapp an der absoluten Mehrheit der Sitze vorbeigeschrammt, kann sich Schwarz-Grün schon länger vorstellen, manche behaupten mit Blick auf die jämmerlich gescheiterte Liaison mit der FDP, dies sei ihre wahre Wunschkoalition. Die Grünen wären nach SPD und FDP ihr dritter Koalitionspartner.
Auch bei den Grünen gibt es Sympathisanten. Doch die entscheidende Figur ist Jürgen Trittin. Wie schon 1998 bei der Bildung der rot-grünen Koalition mit Schröder müsste er den linken Flügel der Partei einbinden, der mit CDU und CSU massiv fremdelt.
Trittin legt in den Verhandlungen finanzielle Vorstellungen und Wünsche nach Steuererhöhungen auf den Tisch, die für die Union undenkbar sind. Der Eindruck verfestigt sich, Trittin sabotiere das Bündnis. Womöglich fürchtet er, die Grünen könnten genau so enden wie die FDP, die bei der Bundestagswahl aus dem Parlament geflogen ist. Nach einem letzten Verhandlungsversuch von mehr als sechs Stunden scheitern die Sondierungen. Merkel ist nun wieder auf eine große Koalition angewiesen, wenn sie weiterregieren will.
In der Union steht der Verantwortliche für das schwarz-grüne Scheitern schnell fest. Wolfgang Schäuble sagt in der Talkshow Anne Will: "Herr Trittin hat’s verhindert." Merkel bedauert, dass man nicht durch die offene Tür gegangen sei, und fürchtet, dass sie sich für Schwarz-Grün allein wohl kein zweites Mal öffnen werde.
Jamaika? Scheiterte nicht an Trittin
Sie behält recht. Vier Jahre später ergibt sich zwar die Chance erneut, aber nur mit der FDP als weiterem Koalitionspartner. Die Verhandlungen für ein Jamaika-Bündnis verlaufen zäh, Merkel zeigt sich beeindruckt von der Fachkompetenz vieler junger Grüner, umschmeichelt den vermeintlich schwierigeren Partner. Bei den Liberalen wachsen Ungeduld und Unzufriedenheit.
Am 18. November gibt Trittin der Bild am Sonntag ein Interview, in dem er fünf Bedingungen für Jamaika stellt, insbesondere in der Migrationspolitik. Es ist der Anlass, auf den Jamaika-Skeptiker nur gewartet haben. FDP-Chef Christian Lindner zieht die Notbremse und steigt aus. Merkel aber bleibt durchaus in Erinnerung, dass Trittin diesmal nicht der Verursacher des Scheiterns war, sondern nur anderen einen Vorwand bot, das Bündnis zu vermeiden.
In den letzten Merkel-Jahren im Kanzleramt verliert Trittin an politischer Bedeutung. Als Außenpolitiker vertritt er aber durchaus eigenwillige Positionen, die zum Teil nicht weit von denen Merkels entfernt liegen – vor allem in der Russland-Politik. So befürwortet er gegen die Parteilinie den Bau der Ostsee-Pipeline Nordstream 2. Er macht dafür wirtschaftliche Gründe geltend, auch wenn er weiß, dass mit der Pipeline klimapolitisch nichts erreicht werden kann. In einem Interview im Dezember 2018 sagt Trittin: "Das Grundargument, man würde sich von den Russen abhängig machen, ist falsch. Pipelinegas führt zu einer gegenseitigen Abhängigkeit, weil die Bindung zwischen Produzent und Konsument groß ist."
Auch als der damalige Grünen-Chef Robert Habeck im Mai 2021 die Lieferung von Defensiv-Waffen an die Ukraine fordert, widerspricht Trittin vehement und stellt sich damit an die Seite Merkels. Er verteidigt diese Position noch bis kurz vor Kriegsbeginn. Nach dem russischen Überfall schwenkt er dann um, so wie Kanzler Olaf Scholz und auch Außenministerin Annalena Baerbock. Ende 2023 kündigt Trittin an, nach 25 Jahren sein Bundestagsmandat niederzulegen.