Der Patient zeigt Symptome mehrerer Krankheitsbilder. Ich-Störung und fehlende Krankheitseinsicht sprechen für Wahn. Denkstörungen und Sprunghaftigkeit bei allgemeiner Verlangsamung zeugen von Verwirrtheit. Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit und Energieverlust bei gleichzeitiger Getriebenheit sind Merkmale der Depression. Die exakte Diagnose fällt schwer - doch auch das ist ein Kennzeichen dieses besonderen, besonders neurotischen Patienten. Der Patient heißt Deutschland.
Er treibt im Ungefähren, Ungeklärten, Unfertigen. In der Unschärfe von Zwischenstadien. Mag nicht vor und nicht zurück. Kann nicht loslassen und nicht zupacken. Fürchtet die Vergangenheit wie die Zukunft. Und fürchtet sich in der Gegenwart. In diesen Tagen hat der Patient alle Verwirrtheiten gleichzeitig offenbart. Geredet und geredet und geredet. Und nichts gesagt. Aber alles offenbart. Die Ärzte sind ratlos. Ärzte? Gibt's die? Es gibt viele, die sich dafür halten - und doch nur Patienten sind. Einer könnte echt sein. Vielleicht. Dr. Köhler, zu ihm kommen wir später.
Zunächst zu den Wahnzuständen, den Zwischenstadien. Kapitalismus oder Sozialismus oder Sozialstaat oder nur Staat - Hauptsache: Staat? Er traue der Regierung Schröder zu, nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen, gemeint ist: nach der verlorenen Wahl, von der Idee des "aktivierenden Staates" abzugehen und "den aktiven Staat, den Etatismus" wiederzuentdecken, sagt der SPD-Abgeordnete Bartels. Das ist kompliziert formuliert und doch sehr klar: Alles, was wir in 20 Jahren diskutiert und in sieben Jahren Schröder getan haben - Steuern gesenkt und es dem Kapital auch sonst gemütlicher gemacht -, alles das war falsch. Weil sich das Kapital nicht hat aktivieren lassen, weil es abhaut und mitnimmt und grässlich undankbar ist. Heißt: Wende. Heißt: Staat. Heißt: Steuern rauf.
Und: Regierung runter. Müntefering regiert. "Der Parteirat erwartet, dass die laufende Debatte über Auswüchse des Kapitalismus nicht durch Regierungsinitiativen konterkariert wird", sagt der niedersächsische SPD-Vorsitzende Jüttner. Die Partei verbittet sich, von Schröder gestört zu werden. Vergangenes Jahr, nach Hartz IV, hieß es noch: alles auf Schröder. Jetzt heißt es: bloß weg von Schröder. Und Schröder? Setzt der noch auf sich selbst? Wenn man nur wüsste, was Schröder ist und ob er weiß, wer er ist. Vielleicht ist er nach NRW plötzlich Münte.
Weiß der wenigstens, wer er ist? Er ist ein bisschen erschrocken wegen seiner Heuschrecken, die keine sind oder keine sein wollen, und duckt sich schon ein wenig weg. Ich? Hätte nicht gedacht, dass wegen des Ungeziefers "so die Post abgehen würde". Die Post - das ist lustig. Und ein Arzt schnell zur Stelle. "Je kleiner Sekten werden, umso radikaler werden die Predigten", diagnostiziert Dr. Scharping. Aber der, siehe oben, ist selbst nur Patient: Ich-Störung, Getriebenheit gepaart mit Durchtriebenheit.
"Keine Regierung, keine Opposition. Der Patient krankt auch an kranken Ärzten. Es kurieren Verdränger und Hypnotiseure"
Die Regierung regiert nicht mehr, das ist geklärt. Am 1. Juni werde er mit Schröder über Müntemarx reden, sagt Lufthansa-Aufsichtsrat Weber. Von einem solchen Gespräch sei nichts bekannt, sagt ein Regierungssprecher. Opponiert die Opposition? Welche Opposition? Wo ist die? Bloß nicht stören, bloß nicht auffallen. Die anderen sind krank, ruft die Union und denkt sich: kränker als wir. Für das Land heißt das: keine Regierung, keine Opposition. Die Wahrheit sagen über den Zustand des Patienten, einfach nur die Wahrheit? Das verkraftet der nicht. Der Patient krankt auch an kranken Ärzten.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Es kuriert die Koalition der Verdränger und Hypnotiseure. Schauen Sie uns mal ganz fest in die Augen: Europa ja, Moloch nein. Erweiterung ja, Billigjobber nein. Verfassung ja, Volksabstimmung nein. Alle kennen die Nachtseite des Projekts Europa: Entfremdung, Entmündigung, Überwältigung durch Unsteuerbares. Alle träumen den Alb vom Turmbau zu Brüssel, doch alle beschweigen ihn.
Deutschland muss voran, voran. So weit es geht: in den Weltsicherheitsrat. Bloß nicht zurückschauen. Ohne Europa sind wir nichts. Ganz allein mit uns.
Und davor graut uns. Vor unserer Geschichte, der bewussten Unbewussten, der nicht begriffenen, der unbegreiflichen. Am Jahrestag der Niederlage, am 8. und am 9. Mai, flüchteten die Besiegten an die Seite der Befreier. Traumatisiert, Ich-gestört, geradezu panisch. Dr. Köhler versuchte es mit einer neuen Therapie: Stärkung des Selbstbewusstseins durch Ansprache des eigenen Leidens wie der "eigenen Begabung zur Freiheit". Die Medien wichen aus, reflexhaft, auf vertraut Rituelles: Es gibt keinen Schlussstrich. Das hat Köhler zwar gesagt, aber das wollte er nicht sagen. Der Patient haust lieber im Ungefähren. "Es breitet sich so eine Stimmung aus, die ich noch nicht definieren kann", sagt der Brandenburger Ministerpräsident Platzeck, wenn er das unfassbare Holocaust-Mahnmal in Berlin zu fassen versucht. 2711 Quader Beton, mitten hineingerammt in den deutschen Wahn.