Kurz vor dem Besuch der Kanzlerin steht eine Gruppe übelgelaunter Jugendlicher in Blaumännern auf dem Hinterhof des Bildungswerks. "Das ist mir total egal, ob die kommt oder nich", sagt ein besonders schlecht gelauntes Mädchen. Auf der achten Station ihrer Bildungsreise bekam die Kanzlerin keine niedlichen Kleinkinder, keine wissbegierigen Abiturienten und keine eifrigen Stipendiaten zu Gesicht.
"Jedem Jugendlichen sollte eine Chance gegeben werden", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrem Besuch im Bildungswerk Kreuzberg (BWK). Im Rahmen ihrer mehrwöchigen Bildungsreise hat die Bundeskanzlerin die Ausbildungsstätte im Berliner Wrangelkiez besucht. Begleitet wurde sie von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), Staatsministerin Maria Böhmer (CDU) und Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD).
Im BWK sollen Jugendliche, die auf dem normalen Ausbildungsmarkt keine Chance haben, die Möglichkeit bekommen, einen Beruf zu erlernen. Derzeit werden dort rund 800 Jugendliche und junge Erwachsene in 13 Lehrberufen ausgebildet. Viele der Azubis stammen aus Einwandererfamilien. Fast alle haben nach dem Hauptschulabschluss lange auf einen Ausbildungsplatz gewartet.
Zum Beispiel drei angehende Einzelhandelskauffrauen, die erwartungsvoll zwischen den Presseleuten auf dem Hof stehen. Nach dem Hauptschulabschluss haben sie sich zwei Jahre lang vergeblich auf Ausbildungsplätze beworben, bevor es hier doch noch klappte. Anfang der Woche haben sie im BWK ihre Ausbildung angetreten. Gerne würden sie die Regierungschefin mal aus der Nähe sehen, am liebsten ein Foto zusammen machen oder ein Autogramm bekommen. "Ich find es toll, dass sie ausgerechnet uns besucht", sagt eine von ihnen.
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Straffer Zeitplan in Kreuzberg
Doch zu einer Autogrammstunde kommt es nicht, der Zeitplan ist straff. Nach der Ankunft macht die Bundeskanzlerin eine kurze Führung durch die Einrichtung. In der Ausbildungsküche vergewissert sie sich, dass die angehenden Köche Thymian von Salbei und Lavendel unterscheiden können. An der Werkbank lässt sie sich erklären, wie man aus einem Stück Eisen einen hübschen Schlüsselanhänger macht. Immer wieder bleibt sie stehen, um Jugendliche nach ihren Erfahrungen bei der Ausbildungsplatzsuche zu fragen. Nach dem Rundgang und einem Fototermin neben der Metallbohrmaschine trifft sie sich zu einem Gespräch mit Bildungswerk-Geschäftsführer Nihat Sorgec und mit Absolventen und Unternehmern aus Einwandererfamilien.
Währenddessen meldet sich im benachbarten Garten ein Kritiker zu Wort. In weißem Frack und Zylinder tritt Leierkastenspieler Thomas Gostischa auf und macht seinem Ärger über den hohen Besuch musikalisch Luft. "Kinder haben großen Wissensdurst, Merkel aber ist das völlig Wurst, das ist wirklich ungeheuer, der Wissensdurst ist ihr zu teuer", singt er aus vollem Halse. „Es muss in die Bildung investiert werden", sagt auch Nihat Sorgec. Nur so hätten sozial Benachteiligte eine Chance, aufzusteigen. Außerdem sei er der Meinung, Hauptschulen müssten abgeschafft werden. Gleich um die Ecke gebe es eine Hauptschule, in der nahezu alle Schüler aus Einwandererfamilien stammten. "Das ist nicht förderlich für die Integration."
Ob Merkel ihm dabei zustimmt, bleibt offen. Zumindest aber lobt sie seine Einrichtung als "gutes Beispiel dafür, wie Jugendlichen nach der Schule der Übergang ins Berufsleben ermöglicht und erleichtert wird." Auch Wowereit äußert sich anerkennend über das Bemühen der Einrichtung, sozial Benachteiligten eine Chance zu bieten. "Wir hören immer wieder, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund aufgrund ihres Namens gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden", sagt er, dabei sollte es immer um Leistung und nicht um die Herkunft eines Bewerbers gehen.

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"Das ist eher so 'ne Art Pflicht von ihr
Nach anderthalb Stunden verabschiedet sich die Kanzlerin. Die drei angehenden Einzelhandelskauffrauen kehren in ihren Unterricht zurück. Angela Merkel haben sie zwar nicht aus nächster Nähe gesehen, aber dafür hat sich Klaus Wowereit zu einem Foto hinreißen lassen. "Meine Mutter hat gesagt, dass das nicht viel bewirken wird, dass die Merkel hier herkommt", sagt eine von ihnen. "Ja, ich glaub auch gar nicht, dass sie freiwillig hier ist", stimmt ihre Freundin zu. "Das ist eher so ’ne Pflicht von ihr."
Seit Mitte August ist Angela Merkel in Sachen Bildung unterwegs. Bis zum 9. Oktober will die Bundeskanzlerin insgesamt zwölf Einrichtungen in zehn Bundesländern besuchen. Nächste Station ist die Realschule Ostheim in Stuttgart. Nach Abschluss der Bildungsreise soll am 22. Oktober ein Bildungsgipfel von Bund und Ländern in Dresden stattfinden.