BUCHAUSZÜGE Hamlet und der Onkel

Auszüge aus Gregor Schöllgens Buch über das Verhältnis von Willy Brandt und seinem Dauer-Rivalen Herbert Wehner. Aus stern Nr. 36/2001.

Auszüge aus Gregor Schöllgens Buch über das Verhältnis von Willy Brandt und seinem Dauer-Rivalen Herbert Wehner

Bis 1960 hat sich Herbert Wehner, Journalist wie Brandt, Ex-Kommunist und bis 1945 wie Brandt von »draußen« gegen die Nazidiktatur kämpfend, an die Schalthebel der Macht in der Sozialdemokratie vorgearbeitet: Er ist nun der Königsmacher der SPD. Das gilt auch für Willy Brandt und seinen Weg zu Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz. Wehner kennt Brandts Schwächen; er spürt, dass der Regierende Bürgermeister auf die Verleumdungskampagnen deutlich empfindlicher reagiert als er selbst; und er ist intelligent genug zu wissen, dass seine politische Biografie ihm selbst zeitlebens den Weg an die Spitze der Partei und damit der Regierung verstellen wird. So setzt er seine beachtlichen taktischen und intriganten Fähigkeiten ein, um einen anderen an die Spitze der SPD und damit diese und sich selbst in der Bonner Republik an die Macht zu bringen.

Er ist es, der im Verlauf des Jahres 1960 Brandts Kanzlerkandidatur durchsetzt. Nach der entscheidenden Sitzung von Parteivorstand und Parteirat am 24. August 1960 soll Wehner gesagt haben: »Ich habe Brandt aufgebaut und durchgeboxt.« Es mag wohl sein, dass er daraus das Recht abgeleitet hat, ihn zu demontieren, sollte er die Stunde für gekommen halten.

Auf einem außerordentlichen Parteitag am 15./16. Februar 1964 wird Brandt zum SPD-Vorsitzenden gewählt: Einmal mehr hat Wehner, unmittelbar nach dem Tod Erich Ollenhauers Mitte Dezember 1963, überfallartig seine Partei auf die neue personalpolitische Konstellation festgelegt. »Am wichtigsten ist für mich«, schreibt er an Brandt, »daß Du die Führung übernimmst. In dieser Beziehung möchte ich allerdings kleine Variationen. Gut erschiene mir, wenn Fritz Erler und ich als stellvertretende Vorsitzende gewählt würden und fungierten.« Dass der Stellvertretende Vorsitzende dabei die Fäden in der Hand behalten will, versteht sich von selbst: Brandt ist für die Außendarstellung vorgesehen, fürs Repräsentieren.

Auch die nächste Weiche wird durch Wehner gestellt. Nach dem Rückzug der FDP aus der Regierung Erhard und dessen Sturz will Willy Brandt schon im Herbst 1966 eine sozial-liberale Koalition. Herbert Wehner will sie nicht; er ist der Überzeugung, dass eine Große Koalition der SPD die Möglichkeit bietet, als Juniorpartner in der Regierungsverantwortung auf Bundesebene das Laufen zu lernen. Außerdem kennt und schätzt Wehner den designierten Nachfolger Erhards, Kurt Georg Kiesinger. Am 24. November 1966 sind sich die beiden über die Grundzüge der gemeinsamen Regierungsarbeit einig. Als Brandt wegen der Verkehrslage verspätet in Bonn eintrifft, muss er zur Kenntnis nehmen, dass die Große Koalition praktisch unter Dach und Fach ist.

»Kein Hamlet mehr, kein Parzival«

Seine Wunschkoalition bildet Brandt dann nach der Wahl am 28. September 1969 - an »Onkel Herbert« Wehner vorbei: Dann kommt die Wahlnacht und mit ihr die Stunde des Willy Brandt. Der Historiker Arnulf Baring hat ein treffliches Porträt des Mannes in dieser Situation gezeichnet: »Kein Hamlet mehr, kein Parzival. Dies war der Tag, an dem er seinem Ziehvater, seinem Zuchtmeister entlief. Sein eigener, einsamer, ganz persönlicher Entschluß, mit Hilfe der FDP Kanzler zu werden, war ein Akt des Widerstandes, gewissermaßen ein innerparteilicher Staatsstreich gegen Wehner, den er genauso loswerden wollte wie Wehner ihn.«

Am 19. November 1972 gewinnt Brandts SPD die vorgezogene Bundestagswahl; danach wird der erschöpfte Kanzler an den Stimmbändern operiert: Seine Regierung wird an ihm vorbei gebildet. Es ist die Stunde Herbert Wehners, auch Helmut Schmidts. Die schriftlichen Anweisungen für die Koalitionsverhandlungen, die Brandt vom Krankenbett aus Wehner hat zukommen lassen, bleiben im Jackett des Fraktionsvorsitzenden. So werden Tatsachen geschaffen, die der Kanzler nach

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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seiner Genesung zum Teil schon deshalb akzeptieren muss, weil sie durch Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangt sind. Vor allem fällt auf, dass enge Vertraute und Stützen Brandts aus Schlüsselpositionen entfernt werden.

Brandt regiert lust- und erfolglos, und Fraktionschef Wehner macht bei einem Moskau-Besuch seinem Unmut gezielt Luft: Am 8. Oktober 1973 war alles zu lesen, was Wehner hatte loswerden müssen. »Entrückt« und »abgeschlafft«, sei die »Nummer eins«; außerdem bade der Herr »gern lau - so in einem Schaumbad«. Der Angesprochene befand sich damals gerade in den USA. Als Pressesprecher Rüdiger von Wechmar dem Kanzler die Fernschreiben mit den Agenturmeldungen über Wehners Ausfälle in die Hand drückte, wurde der »aschfahl«, sagte aber, wie üblich, »nichts und versuchte, seine Wut zu verbergen«. Nach seiner vorzeitigen Rückkehr wollte Brandt seinen Peiniger vor Fraktion, Präsidium und Vorstand zur Rede stellen, musste aber zur Kenntnis nehmen, dass viele Genossen die Einschätzung Wehners teilten.

Angebliche Amouren Brandts

Nachdem sein Referent Günter Guillaume1974 als DDR-Spion aufgeflogen ist, listen die Ermittler angebliche Amouren Brandts auf: So jedenfalls sieht es der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz: »Wenn Guillaume diese pikanten Details in der Hauptverhandlung auftischt, sind Bundesregierung und Bundesrepublik blamiert bis auf die Knochen. Sagt er aber nichts, dann hat die Regierung der DDR, der Guillaume natürlich auch das berichtet hat, ein Mittel, jedes Kabinett Brandt und die SPD zu demütigen.« Das sagt Nollau Wehner, seinem Gönner und Förderer, der wiederum sagt es am Rande eines Treffens der engeren Parteiführung am 4. Mai 1974 in Bad Münstereifel Brandt. Auch Helmut Schmidt ist in der Eifel dabei

und gibt später zu Protokoll, sich »gegenüber Brandt saumäßig benommen«, ihn angeschrien zu haben - das einzige Mal in seinem Leben und in der Absicht, den Kanzler von einem Rücktritt aus »völlig unzureichendem« Anlass abzuhalten. Wehner wiederum drängt Brandt nach eigener Aussage zu einer schnellen Entscheidung, weist ihn darauf hin, dass es »hart« werde, und versichert ihm: »Ich stehe zu dir, das weißt du.«

Rücktritt außer Frage

So mag es sich zugetragen haben oder auch nicht. Brandt jedenfalls weiß, was er davon zu halten hat. Lange genug kennt er Wehner, um auszuschließen, dass der Fraktionsvorsitzende in dieser Situation an seinem politischen oder persönlichen Schicksal interessiert sein könnte. Was Wehner will, ist klar: Die Partei muss so schnell und so unbeschadet wie möglich aus der Affäre heraus, will sie an der Regierung bleiben. Wenn es dafür des Bauernopfers eines sozialdemokratischen Kanzlers bedarf, wird es eben gebracht. Dass er zurücktreten wird, steht für Willy Brandt seit dieser Nacht außer Frage.

Für den Rest seines Lebens macht Brandt der Rücktritt zu schaffen. Er sucht nach Schuldigen und findet sie; vor allem in Wehner und Ehefrau Rut. Die beiden, sagt er später, seien schuld, weil sie ihn nicht davon abgehalten hätten.

Herbert Wehner und Willy Brandt müssen sich so lange ertragen, bis sich einer von ihnen aus der Politik zurückzieht. Das ist erst 1983 der Fall, als Wehner sein Bundestagsmandat aufgibt. Solange sitzen die beiden Seite an Seite in der ersten Reihe der SPD-Fraktion. Doch ist Wehner zusehends krank und erschöpft, und seine »Neurosen« machen ihm, wie Brandt nicht ohne eine Spur von Schadenfreude feststellt, »noch mehr als anderen über den Durchschnitt herausragenden Politikern zu schaffen«.

Gregor Schöllgen: »Willy Brandt - Die Biographie«. Propyläen. Ca. 320 Seiten. 48,90 Mark