Plötzlich war der Kanzler wieder in seinem Element: Beim Autosalon im Messezentrum von Kanton ließ sich Gerhard Schröder am Dienstag von den Besuchern enthusiastisch feiern. Beim Rundgang zu den Ständen von VW oder BMW war der Andrang von Neugierigen so massiv, dass Schröders Leibwächter vorübergehend kapitulierten. Als Reverenz an die Gastgeber nahm Schröder auch kurz in einer Luxuslimousine aus chinesischer Produktion vom Typ "Rote Fahne" Platz.
Gelöst präsentierte sich der Kanzler in der südchinesischen Sieben-Millionen-Metropole, nachdem er am Vortag in Peking das Programm fix und fertig gerade noch über die Bühne gebracht hatte. Der Nachtflug aus Berlin und das stramme Pensum saßen ihm sichtbar tief in den Knochen, so dass man sich in der Delegation schon Sorgen um seine Gesundheit machte.
Das industrielle Herz Chinas
Im Süden stieß Schröder auf viele Superlative. In der Provinz Guandong am Perlfluss-Delta schlägt derzeit das industrielle Herz Chinas. Dort ist das größte Industriezentrum weltweit mit dem schnellsten Wachstumstempo entstanden. Kanton und Umgebung sind dabei, wieder die alte Rolle aus der Kolonialzeit als "Fabrik der Welt" zurückzuerobern. In den über eine halbe Million zählenden Fabrikationsstätten am Delta wird produziert, was das Zeug hält. Jeder dritte Schuh, der irgendwo auf dem Globus in einem Regal landet, ist "Made in Pearl River". Ähnlich sieht es bei Krawatten, Feuerzeugen, Kopiermaschinen, künstlichen Weihnachtsbäumen oder Spielzeugartikeln aus. Auch deutsche Unternehmen wie Kaufhof oder der Otto Versand decken sich hier ein.
Stolz führte Provinzgouverneur Huang Huahua der deutschen Delegation die Erfolge des Aufbaus aus zwei Jahrzehnten vor. Schon jetzt verfügt die Provinz mit ihren 85 Millionen Einwohnern über die Wirtschaftskraft Russlands. Wenn es nach den ehrgeizigen Plänen des studierten Mathematikers geht, soll der Großraum Schanghai, die andere chinesische Boomregion, schon bald überholt werden. Die meisten der 500 Top-Weltunternehmen haben sich dort niedergelassen. Deutsche sind noch unterrepräsentiert. Der Anteil der deutschen Direktinvestitionen liegt gerade einmal bei 0,26 Prozent.
5000 Kilometer Autobahnen, 4000 Kilometer Schienen
Beim fünften Kanzler-Ausflug ins Reich der Mitte machten die Gastgeber Schröder und den knapp 40 mitreisenden Unternehmern viel Hoffnung, dass auch deutsche Unternehmen einen kräftigen Teil des Auftragskuchens beim weiteren Ausbau des Landes abgekommen. Parlamentschef Wu Bangguo wies bei der Abreise Schröders aus Peking am Dienstag vielversprechend darauf hin, sein Land werde pro Jahr allein 5000 Kilometer Autobahnen neu aus dem Boden stampfen und 4000 Kilometer Schienen verlegen.
Der Kanzler zeigte sich angesichts solcher Aussichten auch bei bislang heiklen Angelegenheiten ungewohnt gesprächsbereit. Die seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung geltenden China-Sanktionen bei Rüstungsgeschäften sollen, wenn es nach Berlin geht, EU-weit bald fallen und auch für das Interesse Pekings, die demontierte Hanauer Plutoniumanlage aufzukaufen, sieht der Kanzler kaum Hindernisse.

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Menschenrechte spielen keine Rolle
Das Thema Menschenrechte spielte bei den Gesprächen erneut eine eher untergeordnete Rolle. Schröder bleibt bei seinem Standpunkt, es bringe nichts, in dieser Frage mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Das wohl etwas schlechte Gewissen wurde dadurch gemildert, dass der gemeinsame Rechtsstaatsdialog nun um das Kapitel Menschenrechte ausgeweitet wird, was die Gastgeber aber wenig stört.
Nicht nur von der deutschen Industrie, sondern auch von der neuen Führung in Peking bekam der Kanzler für seinen China-Kurs durchweg gute Noten. Staats- und Parteichef Hu Jintao sprach in höchsten Tönen "vom alten Freund" seines Landes aus Berlin. Ministerpräsident Wen Jiabao, den der Kanzler erst in Peking kennen lernte, legte noch ein Kompliment drauf: "Wenn Sie kommen, scheint immer die Sonne."