Diskussion Darf der Staat Leben opfern, um Leben zu retten?

Terroristen wollen ein gekapertes Flugzeug voller Passagiere in ein AKW oder ein Stadion steuern. Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) würde den Jet abschießen lassen.

PRO: Wolfgang Bosbach

PRO

Wer spontan Ja oder Nein sagt, verkennt das Dilemma, in dem sich der Staat in dieser Situation befindet. "Ja" mag bedenken, dass man nicht immer sicher weiß, ob das Leben der Passagiere tatsächlich unrettbar verloren ist. "Nein" muss überlegen, ob man die Verantwortung für den Tod Zehntausender übernehmen kann, obwohl sie durch einen Abschuss hätten gerettet werden können. Zumal auch jene Passagiere sterben würden, um deren Willen man gerade auf den Einsatz von Waffengewalt verzichtet hat. In diesem Dilemma hat sich Minister Jung klar entschieden. Seine Kritiker berufen sich auf die Feststellung des Verfassungsgerichts, dass man Leben nicht gegen Leben abwägen darf.

Der Staat muss auch an die "Schotten dicht!"-Fälle denken

So weit, so gut. Muss das aber zwangsläufig auch dann gelten, wenn dadurch Zehntausende sterben, die ansonsten hätten gerettet werden können? Muss der Staat nicht auch ihre Würde schützen? "Nein" muss auch an die "Schotten dicht!"-Fälle denken, bei denen ein Schiffsuntergang nur durch Schließung der Schotten des beschädigten Schiffteils abgewandt werden konnte, obwohl sich dort Seeleute befanden, die ohne den Befehl vielleicht noch einige Stunden gelebt hätten. Nur so konnte zumindest die übrige Besatzung überleben. Dieses Dilemma muss auch der zuständige Richter gesehen haben, der später erklärte, er habe darauf gehofft, dass es "im Letzten ein verantwortlicher Amtsträger auf sich nehmen würde, das Notwendige zu vollziehen ...". Im Klartext: sich über das Urteil hinwegzusetzen. Das Gericht hat ausdrücklich offen gelassen, wie zu entscheiden wäre, wenn es um terroristische Angriffe geht, "die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind". In solchen Fällen darf der Staat nicht wehrlos sein und unzählige Menschen den Terroristen - und damit dem Tod - ausliefern.

KONTRA: Walter Kolbow

KONTRA

Helmut Schmidt hat recht: "Es ist nicht nur unzweckmäßig, sondern sogar gefährlich, die Reaktion einer Regierung auf den Eventualfall eines lebensgefährlichen terroristischen Angriffs im Vorwege festlegen zu wollen." Da dies aber Verteidigungsminister Jung nachhaltig tut, muss man sich in der Koalition mit ihm und seinen Argumenten in gebotener Sachlichkeit auseinandersetzen. Das Verfassungsgerichtsurteil von 2006 zum Luftsicherheitsgesetz ist dabei von besonderer Bedeutung: Es verstoße gegen Artikel 1 und 2 der Verfassung, ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug mit Unbeteiligten an Bord abschießen zu lassen. Es sei undenkbar, dies gesetzgeberisch zu regeln und so die gesetzliche Grundlage für einen Abschuss zu schaffen. Damit ist es nicht mehr möglich, sich im Voraus auf das Recht des übergesetzlichen Notstandes zu berufen und dies als Rechtsgrundlage für den Abschuss zu nehmen. Gerade ein Verteidigungsminister, der eine herausgehobene Verantwortung auch gegenüber den Soldaten hat, muss dieses nicht auflösbare Entscheidungsdilemma aushalten und im entsprechenden Fall besonnen und verantwortungsvoll reagieren.

Wir führen keinen "Krieg gegen den Terror"

Was ist zu tun? Als Erstes gilt es, akuter terroristischer Gefahr zu begegnen und Sicherheit am Boden so zu gewährleisten, dass es nicht zu Flugzeugentführungen kommen kann. Die SPD hat bereits 2006 vorgeschlagen, für Fälle, in denen polizeiliche Mittel in der Luft und auf See nicht ausreichen, militärische Mittel zur Gefahrenabwehr zuzulassen. Die von der Union gewünschte Ausweitung des Verteidigungsbegriffs auf terroristische Angriffe ist aber kein gangbarer Weg. Wir führen keinen "Krieg gegen den Terror", sondern bekämpfen terroristische Kriminalität. Die Koalition könnte unmittelbar gesetzgeberisch aktiv werden - im breiten Konsens mit der Gesellschaft und im Parlament.

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