Herr Vahrenholt, Sie waren Umweltsenator, Vorstand bei Shell und leiten heute die Repower, eine börsennotierte Windkraftfirma. Und ausgerechnet Sie fordern, den Ausstieg aus der Atomenergie zu verschieben. Haben Sie die Seiten gewechselt?
Nein, ganz bestimmt nicht. Ich fordere auch nicht, aus dem Ausstieg auszusteigen und schon gar nicht den Bau neuer Kernkraftwerke. Ich glaube nur, dass es vernünftig wäre, den Ausstieg um einige Jahre zu verlangsamen. Wir sind einfach noch nicht so weit.
Aber das hieße ja, schon wieder eine Reform zu verschieben. Was würden wir dadurch gewinnen?
Zeit. Wir müssen uns Zeit kaufen. Wir haben geplant, ab 2007 jedes Jahr ein Kernkraftwerk abzuschalten, bis etwa 2020. Im gleichen Zeitraum muss zusätzlich ein großer Teil der alten Kohlekraftwerke erneuert werden, insgesamt 40 000 Megawatt. In den kommenden 15 Jahren müssen also rund zwei Drittel unserer Stromerzeugungskapazität ersetzt werden. Kraftwerke werden für eine Laufzeit von 40 Jahren ausgelegt. Diese neuen Anlagen legen uns also bis in die Mitte des Jahrhunderts fest. Weil der Bau neuer Kraftwerke gerade in Deutschland eine enorme Vorbereitungszeit benötigt, müssten wir diese Entscheidungen im Grunde genommen bereits heute treffen.
Sind wir denn reif dafür?
Nein. Das große Risiko ist doch, dass unter dem immensen Zeitdruck falsche Entscheidungen gefällt werden. Für den Ersatz der Kernenergie haben wir nur zwei wünschenswerte Lösungsmöglichkeiten, wenn wir nicht in weitere Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten hineinschliddern wollen: erneuerbare Energie und Kohlekraftwerke, die keine oder sehr wenig CO2-Emissionen ausstoßen. Der Nachhaltigkeitsrat hat unter meiner Federführung ein Papier für den Bundeskanzler verfasst, in dem wir davon ausgehen, dass wir ein absolut emissionsfreies Kohlekraftwerk bauen können. Aber das schnippen die Ingenieure nicht so einfach aus den Fingern.
Und Ihre Windenergie?
Die Windenergie braucht in Deutschland noch etwa acht bis zehn Jahre, bis wir preiswerter sind als Gas- oder Kohlestrom. Wenn wir nicht warten und wie geplant ab 2007 massiv Kernkraftwerke abschalten, werden zwei Entwicklungen geschehen, und die sind beide fatal: Für die Grundlast werden die Stromversorger Kohlekraftwerke bestehender Technik bauen. Und diese Kraftwerke werden 40 Jahre das Klima beschädigen. Oder der Ersatz wird mit Gaskraftwerken befriedigt, die von russischem Erdgas abhängen. Wir säßen in der Falle einer neuen Abhängigkeit. Denn dass die Gaspreise zusammen mit den Ölpreisen explodieren werden, davon kann man ausgehen. Verglichen mit diesem Szenario hat ein Aufschub des Atomausstieges um fünf oder acht Jahre langfristig die erheblich bessere Umweltbilanz. Wir brauchen also Zeit zum Entwickeln und Zeit zum Entscheiden.

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Wenn wir unsere Kernkraftwerke länger laufen lassen, könnte das nicht den Druck von der Industrie nehmen, mit aller Kraft beispielsweise an der Entwicklung ihrer Windenergie zu arbeiten?
Wir brauchen keinen zusätzlichen Druck, unsere Windkraftanlagen besser zu machen. Der Druck ist da, durch den Markt und die gesetzlichen Vorgaben. Wir müssen Jahr für Jahr den Strompreis um zwei Prozent senken. In diesem Jahr hat mein Unternehmen beispielsweise den Ertrag unseres wichtigsten Anlagentyps um fast sieben Prozent verbessert. Dadurch wird Windenergie billiger, während Kohle, Gas und Öl immer teurer werden. In Irland, wo der Wind auch an Land kräftig bläst, können wir heute schon billiger Strom produzieren als mit Gas oder Kohle. Bei deutschen Offshore-Windanlagen, also im Meer, wird das erst 2012 so weit sein.
Um uns herum bauen andere Länder neue Atomkraftwerke. Wird aus unseren Steckdosen noch Atomstrom kommen, wenn unsere Kernkraftwerke abgeschaltet sind?
Wir importieren heute schon Strom aus französischen Kernkraftwerken, und das wird nach dem Ausstieg noch zunehmen. Atomstrom wird mit Atomstrom aus Kernkraftwerken ersetzt, die unsicherer sind als unsere.
Wie hoch kann der Anteil erneuerbarer Energie bestenfalls werden?
Das kommt auf den Zeitpunkt an. Das Ziel der EU sind zwölf Prozent im Jahre 2012. Das Ziel der Bundesregierung sind 20 Prozent 2020. Und 2050 sind wir bei 50 Prozent. Leicht zu merken.
Und 100 Prozent?
Halte ich für eine Illusion.
2050 kommt also unser Strom zur Hälfte aus erneuerbarer Energie und zur anderen Hälfte aus emissionsfreien Kohle- und Gaskraftwerken.
So ungefähr. Die weltweiten Kohlereserven reichen noch über 200 Jahre, und die Kohle ist einigermaßen gerecht über den Globus verteilt. Das Ganze setzt zwar voraus, dass wir sehr viel Energie einsparen. Doch da bin ich optimistisch. Das wird vor allem über den Preis geregelt. Heute weiß doch kaum jemand, wie hoch seine Stromrechnung genau ist. Wenn Energie teurer wird, verändern die Menschen automatisch ihr Verhalten.
Aber wie sieht es in der Zwischenzeit aus? Ist unsere Energieversorgung richtig sicher - oder so sicher wie die Rente?
Was die Energieversorgung angeht, müssen wir uns für die erste Hälfte des Jahrhunderts auf turbulente Zeiten einstellen. Da kann es auch zu handfesten Krisen kommen. In Deutschland beginnt genau jetzt der beschriebene, ganz komplizierte Transformationsprozess. Wir müssen die Weichen für diese Übergangszeit bis zur Mitte des Jahrhunderts stellen und haben uns mit dem vorschnellen Ausstieg aus der Kernenergie zusätzlich unter Zeitdruck gesetzt.
Und die globale Energieversorgung?
Die ist viel problematischer als die deutsche. Wir müssen diesen ungeheuren Energiehunger der Welt endlich mal zur Kenntnis nehmen, und der wächst rasant. Der Energieverbrauch allein von China steigert sich alle drei Jahre um die Menge, die Japan insgesamt benötigt. Milliarden Menschen wollen alle so zivilisiert leben wie wir. Das hat gewaltige Auswirkungen auf alle Energieträger, insbesondere auf die Ölversorgung. Wir finden schon seit Jahren weltweit weniger neue Ölvorkommen, als zusätzlich verbraucht wird. Vier Fünftel unserer heutigen angezapften Reserven sind bis 2020 versiegt, das Nordseeöl hat seine maximale Ölförderung überschritten, weltweit wird die Förderung in etwa zehn Jahren unseren Bedarf nicht mehr decken können. Das treibt den Preis. Heute kostet das Fass Öl 40 Dollar. Ich schätze, dass der Preis bis auf 50, 60 Dollar in den nächsten fünf bis zehn Jahren ansteigt. Ab diesem Preis wird es wirtschaftlich, aus Kohle Öl zu machen oder aus Gas Benzin. In der DDR wurde das praktiziert, und in Südafrika geschieht das noch heute. Der Ölpreis kann zwar durchaus auch auf 80 Dollar steigen. Aber nach einiger Zeit würden dann Anlagen gebaut, die Ersatz herstellen und so den Preis dämpfen.
Klingt vertraut. Das wissen wir doch alles schon seit der Ölkrise in den 70er Jahren. Ist die Energiepolitik im typisch deutschen Reformstau stecken geblieben?
Der jetzigen Bundesregierung dies anzuhängen hielte ich für falsch, immerhin ist sie weltweit vorbildlich in der Entwicklung erneuerbarer Energien. Sie haben vorhin das Wort Rente so nebenbei erwähnt. Zur Rentenpolitik sind die Parallelen schon sehr auffällig. Genau wie bei der demografischen Veränderung waren die Probleme prinzipiell bereits in den 70er Jahren bekannt. Genau wie die Rentenfrage ist auch die Energiefrage ab Mitte des Jahrhunderts lösbar. Es geht also um die schwierige Übergangszeit. Und genau wie bei der Rente haben wir in den 80er und Anfang der 90er Jahre die Probleme nicht angepackt, sondern ausgesessen. Eineinhalb Jahrzehnte wurden da verpennt, die gesamte Regierungszeit Helmut Kohls freute man sich selbstzufrieden über die ständig sinkenden Ölpreise und kürzte die Mittel für Energieforschung drastisch. Das müssen wir jetzt aufholen.