Donnerstagnacht um 23.15 Uhr geht es los. 43 junge Aktivisten sitzen in einem ordentlich klimatisierten Reisebus mit Mülltüte an jedem Sitz und Club-Mate-Bar und haben rund zehn Stunden Fahrt vor sich. Vielleicht auch mehr, kommt auf die Polizei an. Jeder rechnet mit langwierigen Kontrollen. Insgesamt zwei Busse voller Demonstranten fahren aus Berlin nach Garmisch-Partenkirchen. Um beim G7-Gipfel Widerstand zu leisten. Um "dem System" und "den Herrschern der Welt" zu zeigen, dass sie nicht einverstanden sind mit "Kapitalismus, Rassismus und Krieg", genauso wenig mit TTIP und der Russlandpolitik. Das findet sich ausformuliert im Faltblatt mit dem Titel "Fight G7", das kurz nach Abfahrt verteilt wird.
Die Widerständler sind gut vorbereitet und schreiben sich auch gleich mit einem Filzstift die Telefonnummer des Ermittlungsausschusses (rechtlicher Beistand bei Verhaftungen) auf den eigenen Körper. Die schwarzen Zahlenreihen auf den Unterarmen sind, ehrlich gesagt, ein sehr seltsamer Anblick. Der Rest nicht. Es fehlen die von der einschlägigen Presse angekündigten Chaoten. Stattdessen: gut gelaunte Menschen mit Berliner Hipster-Frisuren, Akademikerkinder, Schüler, die sich über Geigenunterricht und Urlaub in den schottischen Highlands unterhalten, die sich auf die Zugspitze freuen, die "Bitte" und "Danke" sagen und sich anschnallen, als der Busfahrer darauf hinweist. Der Busfahrer ist übrigens der eigentliche Held dieser Reise, wie sich am nächsten Morgen herausstellen wird.
Doch erst einmal wird Organisatorisches geklärt und ein Film gezeigt, den man locker als Aufpeitsch-Material werten könnte - wenn diese jungen Leute sich denn aufpeitschen ließen. Doch die Dokumentation "2. Juni 1967" über den Besuch des persischen Schahs in Berlin, als Demonstranten von deutscher Polizei und persischem Geheimdienst willkürlich zusammengeknüppelt und Benno Ohnesorg erschossen wurde, verpufft, gelinde gesagt. Die meisten wollen schlafen. Und es wird eine ruhige Nacht.
Als die Sonne aufgeht, strahlt es draußen knallblau, knallgrün, knallgelb, der Himmel, die Wiesen, die Sonne. Wir sind in Bayern, kurz vor München. Keine Polizei-Schikane, nicht einmal Berufsverkehr. Der Busfahrer freut sich und beschließt, nach München eine kleine Pause einzulegen, um selbst mal auf Toilette zu gehen. Es folgt eine Szene wie aus dem Film: Ein einzelnes Polizeiauto steht an der Einfahrt zur Autobahnrststätte. Wir fahren Richtung Tankstelle, als sich plötzlich der Blick öffnet auf zig Mannschaftswagen, ein großes Zelt, das nach Headquarter aussieht, und geschätzt 60 Beamte in verschiedenen Uniformen, die uns, Kaffeebecher in der Hand, verblüfft anstarren. Einer rennt sogar in unsere Richtung, bleibt dann aber stehen. Und der Busfahrer sagt mit ruhiger Stimme: "Ich fahre einfach mal weiter."

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57 Kilometer vor Garmisch-Partenkirchen, kurz vor halb acht, werden wir dann tatsächlich rausgewunken. Allerdings wünscht uns ein freundlicher Polizist nach einem Blick auf den Führerschein unseres Fahrers "Gute Fahrt". Die Fahrgäste lachen und machen Witze über die Dienstzeiten des Beamtentums, als der Fahrer, der übrigens Steffen Rabenau heißt, noch einmal das Mikrofon nimmt: "Da war ein Großteil von euch noch nicht geboren, aber als es die DDR noch gab, nannte man das hier die Vorkontrolle." Wieder Lachen und er fährt fort: "Ich saß als junger Mensch im Gefängnis, weil ich nicht den Mund hielt. Mein Vater hat deshalb seinen Job verloren. Ich finde, es ist eine coole Sache, dass ihr das hier macht, dass ihr auf die Straße geht und eure Meinung sagt. Wir konnten das nicht. Ich kriege jedesmal Gänsehaut. Danke!", sagt er und klingt so emotional und so echt, dass ein paar Aktivisten nichts anderes einfällt als zu klatschen.
Auf der Autobahn sind nun mehr Polizeiwagen als Privat-Fahrzeuge unterwegs. Trotzdem steht auf dem nächsten Ortsschild tatsächlich Garmisch-Partenkirchen. Ohne eine weitere Kontrolle. Stattdessen zum Teil sogar freundlich winkenden Polizisten. "Ich will aber kontrolliert werden", ruft ein Mädchen aus dem hinteren Teil des Busses. Das bleibt ihr aber verwehrt, sogar den ganzen Weg bis ins Protest-Camp. Garmisch-Partenkirchen erwartet die Berliner Jugend als absolute Idylle, mit rauschendem Bach, dunkelbraunen Hütten in sattem Grün und mit atemberaubendem Bergpanorama . "Endlich mal ordentliche Kühe", sagt einer. Hundertprozentig entspannt ist aber trotzdem niemand, dafür ist die Polizeipräsenz einfach zu groß.