Millionen Küken werden, bereits wenige Stunden nachdem sie geschlüpft sind, aussortiert, vergast und entsorgt – weil sie keine Rendite versprechen
Kurz vor Mitternacht in einem Gewerbegebiet. Was aussieht wie eine Fabrikhalle, ist eine Kükenbrüterei. »Zutritt verboten«, mahnt ein Schild an der schweren Eisentür. Neugierige Blicke sind hier unerwünscht. Der ¬ darf rein, aber der Betrieb will nicht genannt werden. Die Mitarbeiter dürfen auf den Fotos nicht zu erkennen sein.
Sie zeigen eine brutale Prozedur. In den langen Hallen lagert fast eine Million Eier in Brutschränken, jeder von der Größe einer kleinen Garage. Keine Glucken, sondern computergesteuerte Apparate brüten hier. 180000 Küken schlüpfen in dieser Nacht – doch nur die Hälfte von ihnen darf überleben. Männliche Küken werden aussortiert und getötet.
Das »Aussexen«, wie die Geschlechtsbestimmung im Fachjargon heißt, übernehmen ausgebildete Spezialisten aus Korea. Jeder Handgriff sitzt: Küken hochheben, ein prüfender Blick auf die Länge der Federkiele an den Flügeln – und ab in einen der beiden Trichter neben jedem Sortiertisch.
»Fließbandtod«
Durch die Trichter rutschen die Küken auf zwei Fließbänder: Ein Band, für weibliche Tiere, führt in die Versandabteilung. Das andere endet über einer Kunststoffbox. Sind die männlichen Küken erst durch die Öffnung oben im Deckel gefallen, beginnen sie zu zappeln und nach Luft zu schnappen, bis sie erstickt sind, denn über einen Schlauch ist CO2-Gas ins Innere des Behälters geleitet worden. 90000 Küken werden hier in dieser Nacht so sterben – mehr als 40 Millionen sind es in Deutschland jedes Jahr.
Seit Jahrzehnten sind die Brütereien spezialisiert: entweder auf die Zuchtlinie »Fleischansatz« oder auf den Typ »Eierleger«. Die Eierproduzenten aber benötigen natürlich nur weibliche Tiere – so dass die Männchen dieser Sorte von Anfang an eine Art lebender Ausschuss sind: Sie legen keine Eier und sind für die Mast nicht geeignet. Am ersten Tag ihres Lebens müssen sie sterben. Die Weibchen produzieren über 300 Eier im Jahr, oft bis sogar der Kalk aus ihren Knochen verbraucht ist und ihre Beine brechen wie Glas.
Küken aus der Zuchtlinie »Fleischansatz« dagegen nehmen in Rekordzeit zu: Nach nur vier bis fünf Wochen Mast sind männliche wie weibliche Broiler »schlachtreif«, sterben am Fließband. Etwa 40 Millionen jedes Jahr in Deutschland. Männliche Küken aus der »Eierleger«-Zucht würden langsamer wachsen. Ihr früher Tod ist eine Frage der Rendite.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
»Ethisch bedenklich«
Genau das aber hält die Bundesregierung für »ethisch bedenklich«. Es »stellt sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Tötung von Eintagsküken auf Grund ihres Geschlechts«, heißt es dazu im Tierschutzbericht der Bundesregierung. Der Hintergrund: Das Tierschutzgesetz untersagt das Töten eines Tieres ohne »vernünftigen Grund«. Deutliche Worte findet deshalb Wolfgang Apel, der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes: Für »ethisch verwerflich und unannehmbar« hält er »die industrielle Vernichtung von Leben«. Sie müsse »so schnell wie möglich dem Ende zugeführt werden«.
Diese Hoffnung dämpft Professor Franz Ellendorff vom Institut für Tierzucht der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft. Hier sucht man nach Methoden, das Geschlecht von Küken schon im Ei zu bestimmen. Damit männliche Küken gar nicht erst schlüpfen müssen. Die Studien laufen seit Jahren, doch: »Es ist uns zwar gelungen, das Geschlecht von Küken schon im Ei zu bestimmen«, so Ellendorff, »aber es gibt noch kein Verfahren, das in der Industrie eingesetzt werden könnte.«
Für die Arbeiter in der Brüterei heißt das: weitersortieren. In der Halle, in der das Fließband für weibliche Küken endet, stapeln sich gegen Morgen Hunderte Kartons mit der Aufschrift »Vorsicht Erstickungsgefahr!«. Für den Versand in Deutschland und den Export bis nach Italien, Frankreich und Polen.
Alle paar Minuten Nachschub
Im Nebenraum türmen sich die männlichen Küken, die mit Gas getötet worden sind, zu einem großen Haufen. Ein Arbeiter schaufelt sie in Container, sie werden zu Tierfutter verarbeitet. Alle paar Minuten kommt Nachschub, die Gasbehälter neben den Sortiertischen sind rasch voll. Wenn die Küken in den Kunststoffkisten noch piepsen oder nach Luft schnappen, muss »nachgegast« werden. Gashahn noch mal aufdrehen und warten, bis im Innern des Behälters alles still wird, alle Küken erstickt sind.
Früher steckte man die Tiere direkt in den »Homogenisator«. Dieser große, besonders schnell arbeitende Fleischwolf wurde als »tierschutzgerechteste« Tötungsmethode propagiert. In der Branche »Muser« genannt, ist die Maschine in den Brütereien nach wie vor im Einsatz.
Am Nachmittag nach dem »Aussexen« kippen die Arbeiter den restlichen Inhalt der Brutschubladen in den Apparat. Kartons und Eierschalen, dazwischen auch immer wieder Küken. Das Piepsen aus den Hunderten von Schubladen, die neben dem Homogenisator gestapelt sind, geht unter im ohrenbetäubenden Lärm des »Musers«. Es lohnt sich nicht, diesen so genannten Nachschlupf – der erst geschlüpft ist, als schon sortiert war – noch aus den Schubladen zu holen. Deshalb werden diese Tierchen zusammen mit Kartons und Eierschalen lebend in den »Muser« geschmissen und zermahlen.
Eine Frage der Rendite – wie alles in der Geflügelindustrie.
Marina und Manfred Karremann