Georg Milbradt bei "Jung & Naiv", Teil 2 "Die Politik sollte sich an Fakten orientieren und nicht an Illusionen"

In der Eurokrise wird nach wie vor viel zu optimistisch agiert, findet Georg Milbradt. Das Prinzip Hoffnung ist aber ein schlechter Ratgeber, sagt der CDU-Politiker im zweiten Teil von "Jung & Naiv".

Bei Angela Merkel heißt es ja oft, diese oder jene Entscheidung sei alternativlos. Ihr Parteifreund und langjähriger Ministerpräsident von Sachsen, Georg Milbradt, relativiert die Aussage der Kanzlerin. "Man sollte immer Alternativen haben", sagt er im zweiten Teil des Interviews mit "Jung & Naiv". Reden allerdings, und da nimmt er die Kanzlerin in Schutz, sollte man über den Plan B im Hinterkopf nur bedingt, weil die öffentliche Diskussion darüber das Ziel in Gefahr geraten lässt.

Das gilt für die Energiewende genauso wie für die Ausgestaltung eines zukünftigen Europas, den beiden Schwerpunkten im zweiten Teil von Milbradts Gespräch mit Tilo Jung. Den Anfang machen allerdings nochmal Griechenland und die Eurokrise.

Hier sehen Sie das Interview als Video.

"Jung & Naiv" ...

läuft montags um 19.30 Uhr auf joiz

Wenn wir Griechenland und den Spaniern Kredite geben, dann nehmen wir doch sogar Geld ein. Ich habe von Peer Steinbrück gelernt, wir verdienen aktuell immer noch Geld mit diesen Hilfen.

Heute nicht mehr. Griechenland hat einen Teil seiner offiziellen Kredite gar nicht mehr zurückgezahlt. Das Geld haben wir schon verloren. Jetzt hat man bei den staatlichen Papieren Folgendes gemacht: Man hat gesagt, wir wandeln die um, die privaten Papiere in Besitz staatlicher Institutionen, und diese unterliegen nicht dem Schuldenschnitt. Aber bei den Abwicklungsbanken, wie zum Beispiel bei der WestLB oder bei der Hypo Real Estate, hat man die sogenannten Giftpapiere rausgenommen. Das waren genau diese Papiere, und da hat man das Geld nicht zurückbekommen Und der Steuerzahler steht dafür gerade. Wenn ich das reinrechne und wenn ich die Abschreibungen berücksichtige, die auf den Papieren bei den privaten Banken vorgenommen worden sind und dadurch zu Steuerausfällen geführt haben, ist natürlich die Rechnung "Wir haben da noch daran verdient?" eine Milchmädchen-Rechnung.

Wir werden noch mehr verlieren, denn – wie ich gesagt habe – in Griechenland wird in den nächsten Jahren eine Rückzahlung nicht möglich sein. Und je eher man das sieht, umso besser ist es. Es macht doch keinen Sinn, sich Illusionen zu machen. Zum einen gegenüber dem Land: Das muss auch eine faire Chance haben, irgendwann einmal auf eigenen Beinen zu stehen – und das ist ohne einen Schuldenschnitt nicht machbar. Aber auch gegenüber der eigenen Bevölkerung zu sagen, wie ein guter Kaufmann, der sagt: Ich habe ein schlechtes Geschäft gemacht, da muss ich auch Abschreibungen machen. Aber nicht die Hoffnung haben, irgendwie käme das Geld rein. Ein sauberer Schnitt, und auf ein Neues! Das erwarte ich auch in der Politik, dass man das – zumindest nach dieser Zeit – endlich ins Auge fasst. Und wie gesagt, im Falle von Griechenland ist es offensichtlich, bei den anderen kann man unterschiedlicher Meinung sein. Bei den Spaniern hängt es sehr stark davon ab, was sich da noch an Schrott in den Bankbilanzen verbirgt. Dahinter verbirgt sich natürlich der Immobilienboom. Die Preise in diesen Ländern sind innerhalb von 15 Jahren teilweise um das Vierfache gestiegen, in Deutschland praktisch null. In dieser Zeit jetzt steigen die Preise ein bisschen, um 10, 20 Prozent. In Irland war das genauso. Wenn die Preise schnell gestiegen sind, müssen sie auch wieder runtergehen. Wenn du einen Kredit gekriegt hast zu den hohen Preisen, und jetzt geht es runter, kannst du nicht mehr bezahlen. Wenn die Bank dann Zwangsvollstreckung macht, kriegt sie das Geld auch nicht mehr zurück. Da sind also Verluste zu realisieren, und diese Verluste muss irgendjemand tragen. Und wer ist die Bank? Das sind die Aktionäre, da ist meistens wenig. Dann sind es die Großgläubiger, die will man aber meistens nicht zur Kasse bitten.

Obwohl die das meiste Geld haben?

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Ja, sicher. Aber dahinter verbergen sich wieder andere Banken, meistens. Oder es ist der Steuerzahler und wir haben bisher immer den Steuerzahler genommen. Das erste Mal, wo wir eine Ausnahme gemacht haben, ist Zypern gewesen. Damit hat man aber auch lange gewartet. Und jetzt erzählt man schon wieder im Falle Griechenland: Das wird nie nochmal kommen – denn sonst könnte Griechenland ja keine neuen Papiere verkaufen. So, das heißt, wir machen also wieder dieselben Fehler. Wir garantieren und sagen: Also, liebe Banken, liebe Investoren, ihr könnt viel kaufen, wir garantieren euch, dass ihr das Geld zurückbekommt. Dann kann man aber nicht gleichzeitig erzählen, wir wollen den Steuerzahler schützen!

Letzte Woche ist Griechenland doch an den sogenannten Kapitalmarkt zurückgekehrt, das heißt, griechische Staatsanleihen werden wieder ausgegeben, die Banken kaufen das.

Ja.

Und ich habe gelernt, die müssen noch nicht einmal einen Euro hinterlegen, sondern können einfach quasi 100 Euro Staatsanleihen kaufen.

Ja, die holen sich das Geld von der EZB praktisch zu null Prozent Zinsen, investieren es in Griechenland für fünf Prozent und kassieren die fünf Prozent. Auf der anderen Seite verlangt Griechenland aber von den öffentlichen Gläubigern, dass sie auf ihre Papiere verzichten. Das heißt, indirekt bezahlt der Steuerzahler diese hohen Zinsen von fünf Prozent.

An diese Investoren?

An die Investoren. Da wäre es doch besser gewesen, Griechenland hätte sich weiter Geld über diese Luxemburger und sonstigen Fonds geholt. Da wären die Zinsen wesentlich niedriger gewesen. Um die Illusion zu erzeugen, Griechenland sei über den Berg, ist man bereit, fünf Milliarden zu fünf Prozent anzulegen, kann man ja ausrechnen über fünf Jahre. Da reden wir über höhere Millionenbeträge, die sind jetzt einfach just for fun ausgegeben worden.

Das wird jetzt gerade just for fun gemacht?

Ja, wenn mir jemand sagt: Kauf das und das Papier, ich als Staat garantiere, du kriegst fünf Prozent, wo du normalerweise beim Sparbuch nur Nullkomma so viel kriegst, da wäre doch jeder blöd, der das nicht tut.

An dieser Stelle hat unsere Redaktion Inhalte von Youtube integriert.
Aufgrund Ihrer Datenschutz-Einstellungen wurden diese Inhalte nicht geladen, um Ihre Privatsphäre zu schützen.

Aber du sagst, das ist eine Illusion?

Ja, weil Griechenland es letztendlich nicht bezahlen kann! Wir haben doch gerade gesagt, Griechenland braucht einen neuen Schuldenschnitt. Und Griechenland drängt ja auch darauf, dass die öffentlichen Gläubiger auf ihr Geld verzichten. Da könnte man natürlich sagen: Wenn dann ein neuer Schuldenschnitt auch die Privaten trifft, dann würde natürlich kein Privater Griechenland mehr Geld geben.

Warum macht man das denn?

Ja, das ist, um die Illusion zu erzeugen.

Warum?

Ja, es kommt ihnen nicht immer darauf an, was ist, sondern was die Leute denken, was ist. Und es ist in der Politik häufig viel wichtiger, als das, was ist. Und wenn die Leute denken, Griechenland ist über den Berg, und wir haben Europawahlen, es ist alles bestens, die Probleme sind gelöst, die Krise ist vorbei, das war nur ein schlechter Traum, ist es doch nicht schlecht. Wenn es so wäre! Aber wenn nachher das böse Ende kommt und gesagt wird "Naja, April April, wir haben uns doch wieder getäuscht", dann ist es natürlich schlecht.

Sie haben es gewusst ...

Ja. Die Geschichte der Krisenbewältigung der letzten vier Jahre ist doch eine Geschichte, in der sich im Viertel- oder Halbjahres-Rhythmus alle Ankündigungen der Politik als falsch erwiesen haben.

Angela Merkel hat Ankündigungen gemacht, und ein halbes Jahr später war alles Makulatur?

Ja, und dasselbe gilt für Schäuble. Aber nicht nur sie! Ich meine, ich will ihnen jetzt auch keinen persönlichen Vorwurf daraus machen. Das hat der Internationale Währungsfonds jetzt zugegeben: Ja, sie haben viel zu optimistisch gerechnet, es war vielleicht doch viel schlechter.

Sorry

Sorry, ja. Nur diese Fehler kosten viel Geld. Auf der anderen Seite sind diejenigen ständig beschimpft worden als Pessimisten oder als Anti-Europäer, die einfach die Zahlen interpretiert und gesagt haben: Es geht so nicht. Mein Kollege Sinn, der ja einer derjenigen ist, der am tiefsten in der Materie drin ist, der ist dann als Professor Unsinn bezeichnet worden, nur was der gesagt hat, ist nachher alles Realität geworden. Ich finde, die Politik sollte sich auch mal an Fakten orientieren und nicht nur an Illusionen.

Du hast vorhin angesprochen, in den Neunzigern wurde dieser Euro, diese Währungsunion, ausgedacht. Das hört sich ein bisschen danach an, dass man wahrscheinlich in der Konstruktion schon viele Fehler gemacht hat. Und ich habe von meinem Wirtschaftsexperten gelernt, wenn man eine Währungsunion macht, dann braucht man auch eine politische Union. Also wenn Regeln aufgestellt werden, braucht es auch jemanden, der sie kontrolliert und dass es einen Aufpasser gibt, der das macht. Du sagst, es hätte ein europäisches Finanzministerium gebraucht?

Das hätte allein wahrscheinlich nicht ausgereicht .

Was denn noch?

In der Wirtschaftsgeschichte gibt es kein Beispiel einer gelungenen Währungsunion. Alle Währungsunionen sind gescheitert bisher.

Gab es das nicht mal zwischen der DDR und der Bundesrepublik für ein paar Monate?

Ja, drei Monate und dann war die Vereinigung da.

Im Ergebnis sind alle Währungsunionen gescheitert und sind immer gescheitert an den Problemen, dass sie keinen Staat haben. Und man kann es auch umgekehrt sehen: Nehmen Sie doch unser Nachbarland Tschechoslowakei. Das wurde zum 1.1.1992 geteilt in die Tschechische Republik und die Slowakische Republik. Man hatte ursprünglich versucht, eine gemeinsame tschechoslowakische Krone beizubehalten, das hat sechs oder acht Wochen gedauert, bis das auseinander brach. Gucken Sie sich die ...

Du kannst mich duzen!

Ja. Guck dir die Situation in der alten UdSSR an, also der Sowjetunion. Als sich die selbstständigen Republiken bildeten, hatten die über kurz oder lang alle ihre eigenen Währungen. Als die Kolonialgebiete von England und Frankreich selbstständig wurden, hatten sie auch relativ schnell eigene Währungen eingeführt. Das heißt, es besteht eine gewisse Vermutung, dass Staat und Währung zusammenhängen, weil die Macht, die der Staat hat zur Ordnung der Wirtschaft und zur Kontrolle, das betrifft nicht nur die Finanzen, auch notwendig ist, um eine gemeinsame Währung zu erhalten. Es gibt dann in der Theorie noch eine andere Lösung, wie vielleicht eine Währungsunion funktionieren kann, wenn die Partner relativ homogen sind, wenn es keine großen Unterschiede zwischen den Partnern gibt: Ursprünglich hatte man daran gedacht, denn die ersten Diskussionen über eine Währungsunion fanden statt in den 1970er Jahren und damals bezog sich das auf das Kerneuropa,

Frankreich, Deutschland ...

… ja, und Benelux. Bei Italien hatte man schon ein Fragezeichen gemacht. Das waren die ersten Vorstellungen. So wurden die Sachen entwickelt. Und als es dann zur Währungsunion kam, war Europa schon ganz anders. Es waren viele Staaten dazugekommen, sehr viel heterogener.

Ungleich?

Ungleicher. Man hätte jetzt sagen können, wir machen eine Währungsunion nur für den Kern, was wahrscheinlich viel besser funktioniert hätte. Aber jetzt hat man die Diskussionsebene verlassen. Man hat am Anfang gesagt: Die Währungsunion ist eine wirtschaftspolitische Maßnahme, um die Integration, den gemeinsamen Markt zu stärken.

Das heißt, man wollte erst die Währung und den Rest erst nach und nach ausbauen? Und den Staat nachschieben?

Ja, und dann ist man dazu gekommen: Nein, wir wollen die Währungsunion als Mittel, um eine politische Integration zu erzwingen.

Obwohl man die gebraucht hätte ...

Richtig. Die Deutsche Bundesbank, die deutschen Experten haben immer gesagt: Krönungstheorie, erst die politische Union. Jetzt muss man fairerweise sagen, hieße es, erst gemeinsamer europäischer Staat und dann Währungsunion. Das ist die Reihenfolge bei der Vereinigung 1871 gewesen, als das Kaiserreich gegründet worden ist. Da hatten die einzelnen deutschen Staaten eigene Währungen. Nachdem man 1871 das gemeinsame Reich gegründet hatte, ist die Mark danach erst eingeführt worden.

Wir haben es jetzt anders gemacht.

Ja, und der Kohl hatte gehofft, zwischen der Vereinbarung von Maastricht und der Einführung des Euro, in diesen acht Jahren, würde es gelingen, die politische Union zu schaffen.

So schnell?

Ja, das war seine Hoffnung. Er war sich der Gefahr durchaus bewusst. Und jetzt haben wir im Grunde genommen nur zwei Möglichkeiten: Entweder kommt es zu dem gemeinsamen europäischen Staat ...

Jetzt oder damals?

Jetzt! Wir haben ja jetzt den Euro. Also wenn der Euro überleben will ...

Das Kind ist im Brunnen?

Wir können ja jetzt nicht die letzten 20 Jahre ungeschehen machen. Wenn der politische Wille da ist, dann können wir jetzt nicht ohne weiteres zurück, wir wollen den Euro als gemeinsame Währung für alle erhalten, dann muss ich sehen, dass ich relativ schnell und zügig einen gemeinsamen Staat schaffe. So, nach dem Typ USA. Jetzt geht es aber noch ein Stück weiter ...

Das hat man sich schon, gewünscht, als der Euro eingeführt wurde?

Ja.

Vor 20 Jahren sollte das schon passiert sein?

Nein, nur den Ökonomen, die was von Währungsunion verstanden haben, war klar, dass dieser Zusammenhang bestand. Und normalerweise macht man erst die Voraussetzungen, und dann macht man sozusagen das Experiment. Und jetzt ist das umgekehrt gemacht worden. Aber gut, jetzt weiß man es. Daher ist jetzt die Frage: Gelingt es, einen europäischen Staat zu schaffen? Jetzt kann man ja mal gucken nach Amerika. Warum? In Amerika gibt es auch Unterschiedlichkeiten, es gibt starke Staaten, es gibt schwache Staaten, industrialisierte Staaten oder reine Agrarländer. Da gibt es Methoden des Ausgleichs, auch in Amerika. Zum Beispiel gibt es eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung. Das führt dazu, in der einen Region ist Arbeitslosigkeit, da kriegen die Leute Geld, in der anderen Region ist keine Arbeitslosigkeit, die zahlen rein. Gemeinsames Steuersystem.

Das haben wir alles nicht in Europa?

Ja, das wäre aber notwendig. Das sind ja die Puffer, auch um in bestehenden Staaten, um die Unterschiede auszugleichen. Nehmen wir mal das System, das wir in Deutschland hatten. Nach dem Beitritt. Wir hatten auch große Unterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland. Wodurch werden die Unterschiede abgemildert? Durch die Arbeitslosenversicherung, insbesondere auch die Rentenversicherung. Durch Wanderungsbewegungen, von Ost nach West. Im Westen boomt es, im Osten ist Arbeitslosigkeit. Ein Teil der Jugendarbeitslosigkeit wird dadurch gelöst, dass junge Leute im Westen eine Lehrstelle bekommen und dort arbeiten. Jetzt hat sich das reguliert, es gibt ein gemeinsames Steuersystem. Die Reichen zahlen mehr als die Armen, da mehr Reiche im Westen sind als Reiche im Osten, kommt es auch dadurch zu einer Umverteilung. Es gibt einen Finanzausgleich. All das ist notwendig, um diesen gemeinsam deutschen Staat zu gewährleisten. In Europa aber sind wir ja noch unterschiedlicher.

Aber da wird auf jeden Fall schon gewandert?

Ja, ja.

Gewandert schon. Das heißt, wir brauchen eine europäische Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung?

Ja.

Auch ein europäisches Steuersystem?

Ja, natürlich. Das nächste ist: Ich muss dann ein gemeinsames Budget haben, aus dem die wesentlichen Dinge bezahlt werden. In Amerika erfolgt ungefähr die Hälfte der öffentlichen Ausgaben über den Bundesstaat. In Europa müssten die Ausgaben um den Faktor 10 auf europäischer Ebene steigen. Das heißt, alle wesentlichen Dinge, zumindest wirtschaftliche Dinge, würden in Europa geregelt. Nur gibt es unterschiedliche Kulturen in Europa. Es nutzt nichts, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung zu haben, wenn wir unterschiedliche Arbeitsmarktregeln haben. Zum Beispiel muss ich einen gemeinsamen Kündigungsschutz haben. Wenn ich eine gemeinsame Rentenversicherung habe, muss ich ein gemeinsames Pensionsalter haben, da kann nicht gesagt werden, in Deutschland müssten wir jetzt auf 67 Jahre ... Die Franzosen sagen: Nö, nö. Wir haben eine junge Bevölkerung, die können das auch mit 61. Dann müssen wir gemeinsame Leistungen im Sozialen bezahlen, das heißt also, wir sind da ganz am Anfang, und ich sehe im Augenblick auch nicht, wie man das bei der Unterschiedlichkeit hinkriegen kann. Das Nächste ist, ich brauche eine europäische Regierung.

Ah!

Eine europäische Regierung, die aus europäischen Wahlen hervorgeht.

Demokratisch gewählt?

Ja, natürlich. Das heißt, im Augenblick gibt es im Wesentlichen die Kommission, es gibt das Europa-Parlament. Aber die wesentlichen Entscheidungen, gerade auch in der Eurokrise, werden ja nicht von europäischen Gremien im engeren Sinne getroffen.

Sondern von den Regierungschefs?

Ja. Durch Vereinbarungen zwischen den Regierungen. Wenn ich Deutschland mit der Konferenz der Ministerpräsidenten regieren würde, würde das auch nicht funktionieren. Ich war ja einer! Die Konferenz der Ministerpräsidenten ist gut für bestimmte Sachen, aber ich kann das nicht als Basis der Machtausübung nutzen. Da brauche ich außerdem eine gemeinsame Macht, also gemeinsames Militär.

Eine europäische Armee?

Europäische Armee. Regelverletzungen müssen geahndet werden, das heißt, es müssen auch dort gemeinsame Kriterien gelten. Wir sind, was das angeht, am Anfang. Jetzt geht es noch ein Stück weiter. In den Föderationen, Europa wird ja immer ein Bundesstaat, sein, gibt es immer das Problem, wie weit geht die Solidarität mit den Teilstaaten? In Amerika sagt man wie folgt: Wenn Kalifornien pleite geht, geht es pleite. Keine Hilfe. Wenn Detroit auf der Gemeindeebene pleite geht, gibt es keine Hilfe. Deswegen braucht man keine zentrale Kontrolle bei den Finanzen der Bundesstaaten in Amerika oder der Gemeinden. Dasselbe haben die Schweizer: In der Schweiz kann jeder Kanton pleite gehen, jede Gemeinde kann pleite gehen. Diese Länder haben ein solches dezentrales System, sonst würden sie meines Erachtens auch gar nicht funktionieren. Dann würden sie auseinanderfliegen.

Wenn wir jetzt auf Dauer auch noch die Staaten retten wollen, müssten wir ein stärker zentralisiertes System haben als in Amerika. Und da kann ich nur sagen: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir vorstellen, dass Europa so organisiert wird, wie die Schweiz, die ja auch unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Sprachen miteinander vereint, mit unterschiedlichen Mentalitäten, aber auch in der Schweiz gibt es keine Haftung füreinander. Ich behaupte, wenn es das in der Schweiz gäbe, gäb es die Schweiz schon nicht mehr.

Und das Zweite ist: Trotzdem haben die einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, gemeinsame Arbeitsmarktregeln, gemeinsame Sozialversicherung und eine sehr starke Konzentration von Ausgaben und Einnahmen auf der Bundesebene.

Daher würde mich interessieren, wenn wir in Deutschland jetzt nicht nur über die Eurokrise und so weiter diskutieren würden, sondern auch über Europa. Es wird immer gesagt: Wir brauchen mehr Europa. Das ist mir viel zu unpräzise. Ich möchte gerne wissen: Was für ein Europa? Möglicherweise brauchen wir gar nicht mehr Europa, sondern wir müssen ein ganz bestimmtes Europa haben, wo Aufgaben und Zuständigkeiten und die Autonomie richtig verteilt sind. Was nicht funktioniert ist, dass wir weitgehend den Nationalstaaten Autonomie geben, also Selbstverwaltung. Solidarität und Autonomie schließen sich aus. Entweder muss es ein Höchstmaß an Autonomie geben, dann aber gibt es keine Solidarität im Sinne von Mithaftung. Oder ich sage, wir wollen ein Höchstmaß an Solidarität haben, dann habe ich aber eine sehr starke zentralstaatliche Struktur in Europa. Wie gesagt, die wäre dann zentralstaatlicher als die USA und die Schweiz. Ob die europäischen Völker das so wollen, das würde ich in dieser Frage im Augenblick bestreiten. Im Augenblick! Ob das mal in fernerer Zukunft so sein wird: Fragezeichen. Aber solange im Augenblick die Wirtschaftspolitik und die Arbeitsmarktpolitik soweit auseinanderlaufen, würde sich Europa übernehmen, wenn man jetzt von oben alles dirigieren würde. Denn das hieße im Ergebnis, dass ich dann auch einen Staatskommissar irgendwohin schicke. Hier in Sachsen ist das so. Wenn eine Gemeinde aus dem Ruder läuft, nach dem sächsischen Gesetz haftet der Freistaat für die Gemeinden, ja dann wird da ein Staatskommissar hingeschickt. So, und der Staatskommissar schmeißt den Bürgermeister und den Gemeinderat raus und nimmt die notwendigen Maßnahmen vor. Das ist das Gegengewicht zur absoluten Solidarität.

Können wir uns das in Europa vorstellen? Ich nicht. Ich glaube, das gäbe Mord und Totschlag.

Ich habe mal gelernt: Die, die Macht haben, haben natürlich Interesse daran, dass sie die Macht behalten. Glaubst du nicht, dass Merkel und die Regierung sagen: "Wieso? Es ist doch ganz gut. Wir müssen uns nicht am europäischen Parlament oder an der europäischen Regierung orientieren, sondern wir machen das einfach untereinander aus. Das ist doch viel einfacher." Also wie schafft man das, auf Macht zu verzichten?

Ja, ich glaube das auch, dass die das gar nicht so wollen. Aber dann ist so ein europäischer Staat nicht machbar, und damit ist auf Dauer keine Währungsunion machbar. Das muss man wissen.

Wissen die das?

Ja, ich glaube, man macht sich Illusionen. Man hat genügend Beispiele an Bundesstaaten in der Welt, wie die funktionieren. Und wenn man sich daran orientiert, dann ist es relativ klar, was die Mindestvoraussetzungen wären, um das Euro-Projekt langfristig zu stabilisieren. Und das ist eben wesentlich mehr, als bisher gemacht wird. Wir können ja noch nicht einmal Vertragsbrüche wirklich ahnden.

Ja, aber Briefe schreiben.

Ja. Das ist vielleicht auch ganz gut so, weil wir in Europa noch nicht so weit sind. Dann sind wir aber auch noch nicht in der Lage, einen gemeinsamen Staat zu gründen. Dann können wir eben nur etwas zwischen einem gemeinsamen Staat und einem losen Verbund von Staaten machen. Wir sind auf dem Wege, aber wir sind bei Weitem noch nicht so weit, dass wir die Strukturen hätten, die notwendig sind, um in einer Währungsunion die notwendige Stabilität herzustellen. Und deswegen sage ich: Entweder wir sind in der Lage, dieses zu schaffen, oder wir müssen uns zurückziehen auf ein Modell Schweiz. Aber das Modell Schweiz heißt, wir müssen dann auf jeden Fall wieder die gegenseitige Haftung aufheben, und wir müssen den gemeinsamen Sozialstaat ausbauen, wir müssen gemeinsame Arbeitsmarktregeln haben. All das, was ich eben diskutiert habe. Und wir müssen einen großen Transfer von Aufgaben der Nationalstaaten auf die Brüsseler Ebene haben, damit die überhaupt genügend Masse haben, um diese Stabilisierung herzustellen, Mit dem jetzigen europäischen Budget ist das nicht machbar. Das heißt aber dann, etwas scharf formuliert: Frau Merkel würde die Frau Kraft von Europa, nämlich die Ministerpräsidentin des größten Einzellandes. Dieses Europa, was ich für notwendig halte, setzt notwendigerweise voraus, dass die jetzigen Nationalstaaten soweit zurücktreten wie die Bundesländer bezogen auf den Bund.

Also weniger Macht?

Ja. Das heißt, bei zentralen Dingen können sie mitreden. In Deutschland sprechen ja die Ministerpräsidenten mit, aber die zentrale Macht liegt bei der direkt gewählten, über das Parlament gewählten Bundesregierung. Und dort wird die Musik gemacht. Nehmen wir das Thema Energiewende. Da gibt es so eine Art informelle Gruppe, die dann zusammen mit der Zentralregierung zusammenarbeiten. Aber sonst doch nicht. Deswegen noch einmal: Ich glaube, dass diese weitgehende Übertragung von Vollmachten im Augenblick nicht gewollt wird und auch nicht als notwendig gesehen wird, oder dass man sich damit rausredet: Kommt Zeit, kommt Rat.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Ja, oder noch schlimmer: Es kann nur schlechter werden, damit es besser wird. Weil dann der Zwang, möglicherweise diesen Quantensprung zu machen, größer ist. Man kann ja jetzt auch ganz bösartig sagen: Es geht uns noch zu gut. Es muss uns erst richtig schlechter gehen, bevor wir bereit wären, diese notwendigen Konzessionen zu machen. In der gegenwärtigen Situation ist dazu niemand bereit, und man merkt es doch: Wir haben gerade mit großem Trara den europäischen Fiskalpakt beschlossen, damit das Schuldenmachen aufhört. Und wir stellen fest: Die Schulden in Europa steigen weiter, keiner hält sich an die Kriterien, und Frankreich erklärt jetzt zum dritten Mal, sie sind nicht in der Lage, obwohl sie es schon zig Mal versprochen haben, ihre Defizit-Ziele einzuhalten, und sie bräuchten jetzt wieder eine Verlängerung und ...

Kommt ja auch nur ein blauer Brief, sonst passiert ja nichts!

Ja. Selbst wenn die europäischen Institutionen und Deutschland sagen, das kommt überhaupt nicht infrage, würden die es trotzdem machen. Ja, und? Da würde man es hinnehmen, und es wäre genau die Situation, die vorher war. Da sagt man, diese ganzen Verträge, diese ganzen Absprachen sind letztlich zahnlos, weil es keine wirklich glaubhaften und stringenten Sanktionsmöglichkeiten gibt. Sanktionsmöglichkeiten gibt es aber nur in einem gemeinsamen Staat, nicht zwischen Staaten.

Das Bild von Frau Merkel als einer Frau Kraft, als stärkste europäische Ministerpräsidentin, muss man das Angela schmackhaft machen, indem man sagt: Hey, dann wirst du vielleicht europäische Kanzlerin?

Ja, gut. Das ist die andere Möglichkeit. Ich werde sozusagen befördert. Nur glaube ich jetzt, ehrlich gesagt, dass es für einen Deutschen oder eine Deutsche schwierig werden würde, Präsident einer einer solchen gesamteuropäischen Veranstaltung zu werden, und zwar mit Machtbefugnissen. Ich glaube, da würden wir uns auch übernehmen, wenn wir das anstreben würden.

Es ist ja auch selten in Amerika, dass der kalifornische Gouverneur US-Präsident wird.

Clinton war auch Gouverneur. Nur der jetzige war es nicht. Es kommt schon vor. Nur in Deutschland müssen wir auch berücksichtigen, dass es ja nicht nur um Größe und politische Macht geht, sondern auch um Befindlichkeiten, und deswegen glaube ich, dass wir in Deutschland alles tun sollten, um uns nicht allzu sehr in die vorderste Reihe zu drängen, weil das kontraproduktiv wäre.

Aber Volker Kauder hat doch gesagt: Europa soll Deutsch sprechen.

Ja, es wäre ja auch nicht schlecht, wenn vielleicht wieder ein bisschen mehr Deutsch in Europa geredet würde, aber man soll die Sache nicht übertreiben. Und nach wie vor ist Europa ein sehr empfindliches Gebilde und die Tatsache, dass wir in der Eurokrise jetzt in einigen Ländern sehr nationalistische und auch deutschfeindliche Töne gehört haben, das sollte uns wirklich zu denken geben, dass wir nach wie vor an dieser Stelle vorsichtig sein sollen. Das heißt nicht, dass wir einfach nur immer nach hinten treten und den anderen das Feld überlassen, aber ich glaube, wir sind nicht soweit, dass es möglich wäre, einfach nur zu sagen: Wer die Mehrheit hat, wer die Macht hat, soll auch nach oben kommen. Bei den Präsidenten der Europäischen Kommission haben überproportional viele Chancen immer Bewerber gehabt, die aus den kleineren Ländern kamen. Warum wohl?

Mmh.

Also deswegen glaube ich, wenn wir eine europäische Regierung haben, wird an der oberen Spitze eher ein Luxemburger sein oder wer auch immer.

Martin Schulz würde mir jetzt einfallen.

Ja, gut. Aber warten wir mal ab. Also ich glaube, dass wir da noch nicht ganz so weit sind, wie viele sich das wünschen, wie ich es mir auch wünsche, ich bin nicht dagegen. Nur glaube ich, dass man Realist sein sollte, und bei den Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, die wir eben diskutiert haben, jetzt eine personelle Frage mit einer nationalen Frage verbinden, das wäre dann zu viel Sprengstoff.

Wir haben oft über Eurobonds und eine Vermögensabgabe geredet. Könnte man die Eurokrise durch eine Vergemeinschaftung der Schulden lösen?

Mmh.

Das wäre ja das Gegenteil von dem Schweizer Modell, richtig?

Mmh. Und dem amerikanischen Modell.

Was hältst du von Eurobonds?

Ja, das ist genau dasselbe. Wenn jeder zu Lasten des anderen einen Kredit aufnehmen kann, das kann ich doch nur machen, wenn ich Kontrolle über den anderen habe. Ich würde doch auch nicht für dich bürgen, damit du billiger Kredit kriegst!

Außer wenn wir beide geregelt haben, was passiert, wenn ich irgendetwas nicht mache!

Ja. Also ich habe in meiner Familie Folgendes gelernt, das hat mir mein Vater gesagt: In der Verwandtschaft nie bürgen und nie Kredit geben. Das zerstört die Familie.

So?

Weil ich in der Familie nicht mit diesen Instrumenten arbeiten kann. Ich kann meinen Bruder oder meine Schwester nicht verklagen, wenn sie einen Kredit nicht zurückzahlen, da ist die Familie kaputt. Und deswegen sind, glaube ich, diese Mechanismen für eine Gemeinschaft – ich vergleiche jetzt Europa mit einer Gemeinschaft wie Familie – an sich die falschen. Mein Vater hat gesagt: Wenn du ihnen helfen willst, dann schenk ihnen was. Sind die Regeln klar?

Mmh.

Denn ich gebe jemanden Kredit in der Verwandtschaft. Derjenige, der den Kredit kriegt, sagt: "Naja, ich bemühe mich, den zurückzuzahlen, aber wenn ich ihn nicht zurückzahle ... Es ist ja mein Verwandter, der kann ja nicht gegen mich vorgehen." Und ich habe dann auch Skrupel, was zu tun. Das heißt also, das kann man machen, wenn es sich um Fremde handelt. Eine Bank hat keinerlei Skrupel, eine Zwangsvollstreckung durchzuführen, weil das ein Fremder ist. Aber man stelle sich das vor zwischen Geschwistern oder zwischen Vettern oder zwischen Eltern und Kindern – undenkbar!

Aber wenn es einen gemeinsamen Familientopf gäbe, aus dem du am meisten rausnehmen kannst. Wenn ich Geld brauche, dann bräuchte ich nicht dich zu fragen, sondern alle entscheiden, ob ich in den Topf greifen darf. Gibt es da einen Unterschied!

Da gibt es einen Unterschied. Nehmen wir zum Beispiel den Finanzausgleich zwischen den Bundesländern in Deutschland. Die etwas Steuerreicheren geben den etwas Ärmeren Geld. Punkt.

Wenn ich das überziehe, kriege ich kein Geld. Ich kann nicht selber definieren, wieviel ich brauche, sondern es wird mir irgendwie zugemessen. Oder ein Sozialhilfeempfänger in Deutschland bekommt Geld. Damit muss er aber auskommen. Der Staat geht nicht hin und sagt: Wenn du Schulden machst, komme ich dafür auf. Dann würde das System völlig aus dem Ruder laufen. Ich kann nicht die Mühen der Sozialhilfezuteilung dadurch vermeiden, dass ich jedem eine goldene Kreditkarte gebe und der Betroffene selbst entscheiden kann, wieviel er braucht.

Mit einer gemeinsamen Haftung geht das nicht, da brauche ich klare Regeln. Das heißt, ich habe einen ganz zentralistischen Staat. Ich habe das ja noch nicht mal in Deutschland! Und in Deutschland haben wir ja schon Schwierigkeiten genug, und deswegen glaube ich, dass ein solches System, wenn es nicht ausgenutzt wird, einer so starken Korsettstange bedarf, einer sehr starken europäischen Regierung, dass wir das im Augenblick nicht anstreben sollten. Es wäre eine Regierung, die mächtiger wäre als der amerikanische Präsident. Eine Zentralisierung, die höher ginge als in der Schweiz. Schauen wir uns andere Bundesstaaten oder andere Kontinente mit funktionierenden Bundesstaaten an, zum Beispiel Kanada oder Australien, und gucken mal, wie die das dort geregelt haben. Die haben immer noch den Vorteil, dass sie nicht so multikulturell sind wie Europa. Dann haben wir vielleicht eine gewisse Blaupause für das, was kommt. Aber so gehen wir ja nicht vor, wir reden ja nicht davon und sagen: Was müsste sein, damit Europa funktioniert? Sondern wir kommen umgekehrt und sagen: Was müssen wir im Augenblick tun, um die Krise zu lösen oder irgendwie unter den Teppich zu kehren ...

Mmh.

Aber wir sollten umgekehrt diskutieren, nicht außerhalb der Krise, sondern sagen, was in Europa wollen wir? Und dann können wir gucken, wie wir von dem jetzigen Zustand dahin kommen. Diese Diskussion, die fehlt mir ein bisschen. Wir sind immer noch im Krisenmodus.

Bist du ein Anhänger der Schuldenbremse? Bist du ein Anhänger des Prinzips "Schwäbische Hausfrau"?

Ja.

Kann man einen Staatshaushalt so organisieren wie einen Privathaushalt?

Das muss man.

Ich habe von Gesine Schwan gehört, das ist Unsinn!

Das muss man. Denn die ökonomischen Gesetze ändern sich nicht dadurch, dass mehr teilnehmen. Man kann auf Dauer nur so viel ausgeben, wie man einnimmt.

Aber selbst eine schwäbische Hausfrau entscheidet sich irgendwann ein Haus zu bauen. Dann nimmt sie auch Schulden auf.

Ja, das kann sie ja auch. Dann hat sie ja auch etwas davon. Und dann zahlt sie das zurück anstelle der Miete, nicht? Und dann kann man ja kalkulieren. Das heißt, es ist vielleicht günstiger, ich kaufe ein Haus, ich muss dann Zinsen zahlen und auch tilgen. Und das vergleiche ich mit einer Miete, die ich in einem Haus zahle, das mir nicht gehört. Dann rentiert sich die Investition, wenn man es richtig rechnet, durch die eingesparte Miete.

Das ist gutes Schuldenmachen?

Ja! Ich bin ja nicht gegen das Schuldenmachen. Natürlich braucht man zur Finanzierung von bestimmten großen Investitionen auch Schulden. Ich kann ja nicht alles mit meinem eigenen Geld bezahlen. Allerdings, jetzt kommen wir genau dazu: Was finanzieren wir denn in Deutschland damit? Wenn ich mir die Infrastruktur ansehe: Die Infrastruktur-Ausgaben sind doch in den letzten Jahren gesunken. Wir hatten die relativ höchsten Infrastruktur-Ausgaben, wenn wir mal Westdeutschland nehmen, in den 50er und 60er Jahren, also beim Wiederaufbau. Seitdem geht die Investitionsrate kontinuierlich zurück. In den 50er und 60er Jahren haben wir die wenigsten Schulden aufgenommen.

Aber Angela Merkel sagt immer: Wir wollen unseren Kindern keinen Schuldenberg hinterlassen. Wollen wir denen dann auch keine Infrastruktur hinterlassen?

Wenn wir wirklich jetzt einen Quantensprung in der Infrastruktur hätten, da könnte man darüber reden. Aber wir finanzieren doch über Kredit bestenfalls die Reparatur!

Ja, aber nehmen wir das Beispiel Netzausbau. Internet und so weiter. Da passiert gerade gar nichts! Wir fallen zurück.

Das könnte man machen. Das könnte man möglicherweise auch privat finanzieren. Weil es möglicherweise auch Erträge da gibt. Wenn es sich um solche außergewöhnlichen Sprunginvestitionen handelt, ja. Aber wenn die Investitionen, so wie wir sie machen, im Wesentlichen nur die Reparatur darstellen oder die Ausbesserung, den Ersatz von Vorhandenem, wenn wir gleichzeitig eine Bevölkerung sind, die von der Kopfzahl abnimmt, dann ergibt sich daraus nicht eine Rechtfertigung zu besonders hohen Krediten.

Aber wir stehen doch zum Beispiel vor einem Quantensprung bei der Energiewende. Wenn das kein Sprung ist! Warum sagen wir da nicht: Ey, in 30, 40 Jahren wird der Strom erneuerbar sein, da kostet uns das gar nichts mehr. Diese Schulden nehmen wir jetzt auf, das ist es uns wert!

Ja, wenn das eine rentable Investition wäre, könnte man so denken. Ich glaube aber, dass es das nicht ist. Sondern es ist eine Riesenfehlinvestition.

Die Energiewende?

Ja.

Warum?

Ja, weil Sie dafür zunächst einmal die ökonomischen Gesetze beachten müssen. Strom ist nicht gleich Strom, sondern was wir brauchen, ist nicht Strom irgendwann und irgendwo, sondern Strom kontinuierlich. Und das setzt voraus, dass wir Speicher haben. Solange wir keine Speicher haben, nutzt uns eine zusätzliche Photovoltaikanlage überhaupt nichts. Denn gleichzeitig baue ich jetzt eine Struktur von regenerativer Energie auf, aber da die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht, muss ich gleichzeitig parallel eine zweite konventionelle Struktur aufbauen, denn die einzige Möglichkeit, das zu stabilisieren, ist durch Kohle- und Gaskraftwerke. Deswegen steigt ja auch die ...

Umweltverschmutzung?

Ja. Und obwohl wir immer mehr Windräder aufbauen und immer mehr Photovoltaik anwenden, steigt die CO2-Emmission.

Letztes Jahr war das schlimmste Jahr, und wir nennen uns ein "grünes Land"!

Ja.

Das ist doch pervers.

Ja. Das heißt, wenn wir bei der Energiewende eine zielgerichtete Politik machen, müssen wir uns erst mal überlegen: Was wollen wir überhaupt? Was ist denn das Ziel der Energiewende? Da kann man sagen ...

100 Prozent Erneuerbare?

Nee, nee, nee. Vorsichtig! Das ist mir zu schnell. Ich würde sagen: Wir wollen den CO2-Austoß reduzieren.

Und stoppen, oder?

Reduzieren und vielleicht stoppen, ja. So, dann muss man gucken, wo wird das meiste CO2 im Augenblick emittiert?

In der Industrie.

Bei der Heizung.

Wir dürfen nicht mehr heizen?

Besser dämmen. So kann man im Augenblick am schnellsten CO2-Reduktion hinbekommen, im ganzen Bereich des Heizens. Im Bereich des Stroms, also insbesondere mit Photovoltaik, ist es die teuerste Methode, CO2 zu verringern. Wenn ich einen Gutachter frage: Wie empfiehlst du uns, mit möglichst wenig Aufwand der Bevölkerung CO2 zu reduzieren? Dann sagt er, bei der Heizung!

Warum keine Dämmung bei der Industrie?

Die sind schon sehr energieeffizient.

Findest du?

Ja, jedenfalls verglichen mit dem privaten Sektor. Die Industrie arbeitet schon relativ energieeffizient.

Die haben doch keinen Anreiz, Energie zu sparen, weil sie durch die EEG-Sachen von den Finanzierungskosten der Energiewende befreit ist.

Das ist schon die erste falsche Schlussfolgerung.

Ach!

Ich rede über Energie und nicht über Strom. Wir reduzieren ja das ganze Energiethema auf das Stromthema. Strom ist aber nur ein kleiner Anteil der Energie, die wir verbrauchen. Das heißt, die Frage, ob wir das Klima retten, wird nicht im Stromsektor entschieden, sondern dazu müssen wir den ganzen Bereich betrachten. Wir verbrauchen Energie für Heizung, wir brauchen Energie für Verkehr, wir brauchen Energie für Produktion. Und da sind in unterschiedlichem Maße die unterschiedlichen Energieträger mit dran beteiligt. Das müssen wir sehen. Das Zweite, was ich gesagt habe, ist: Im Industriebereich brauche ich eine ständige Energie. Ich kann nicht sagen: Jetzt kann die Maschine angestellt werden, weil die Sonne scheint, und dann muss sie wieder abgestellt werden, weil die Sonne nicht scheint. So, ich muss also erstmal das Thema lösen, wie kriege ich eine kontinuierliche Energie heraus? Und bisher ist dieses Thema in Deutschland und auf der ganzen Welt noch nicht gelöst. Wir hoffen, dass wir durch ...

Erfindungen?

… durch Speicher im Sinne von Batterien das Problem lösen. Die heutigen Batterien können das Problem noch nicht lösen. Die einzige Methode, die es heute gibt, in großem Stil Energie zu speichern, ist durch Pumpspeicherwerke. Also Wasser hochzupumpen, wenn man zu viel Energie hat und wieder runterlaufen zu lassen, wenn man zu wenig Energie hat.

Und dazu fehlen uns die Berge?

Ja. Und wenn wir das mal durchkalkulieren, müssten wir in Deutschland fast jedes Mittelgebirgstal aufstauen, das geht also nicht. Zumindest reicht es wahrscheinlich für Deutschland nicht, weil wir die Berge nicht haben. Außerdem müssten wir zumindest die Bewohner der Berge auch fragen. Das wäre die Alpenregion, da ist es sehr viel einfacher, wie in der Schweiz und in Österreich. Oder was ja immer wieder diskutiert wird, verglichen mit deutschen Standards ist Norwegen ein fast menschenleeres Land. Da könnte man darüber diskutieren, in solchen größeren Dimensionen vielleicht das Problem zu lösen. Das setzt aber eine internationale koordinierte Energiepolitik voraus. Diese Fragen müssen wir lösen, denn sonst habe ich den Eindruck, werden wir uns verrennen. Denn im Augenblick sagt der Rest der Welt zu der deutschen Energiewende: Um Gottes Willen, wir können uns das nicht erlauben, was die Deutschen sich erlauben.

Gut, jetzt kann man sagen: Wir sind doch reich, wir können ja auch paar Fehler machen, und dann können die anderen die Fehler vermeiden, aber irgendwann müssen wir die Kernfragen unserer Energiepolitik lösen. Nämlich das Dreieck aus Energiesicherheit – Krim lässt grüßen. Zweitens preiswert und drittens umweltschonend. Es geht darum, wie wir diese drei Ziele vernünftig zusammenkriegen.

Ich habe den Eindruck, wir sind auf der Suche. Denn darum arbeitet die Bundesregierung an der Totalreparatur der Stromenergiewende durch die EEG-Novelle. Gabriel sagte ja: Es muss sich jetzt grundlegend was verändern. Das zeigt ja, dass wir offensichtlich noch am Anfang unserer Überlegungen sind. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass das, was der Gabriel jetzt hinbekommen hat – wegen der vielen Lobbyisten – das Gelbe vom Ei ist. Wir werden dieses Projekt noch drei, vier, fünf Mal nachbessern müssen, bevor wir auf dem richtigen Weg sind.

Kannst Du bitte kurz Deinen Hinweis auf die Energiesicherheit am Beispiel der Krim erläutern?

Im Augenblick wird ja ein Teil der Energiesicherheit bei uns dadurch sichergestellt, indem wir sehr schnell anlaufbare Kraftwerke einsetzen. Das sind die Kraftwerke, die schnell hochgefahren werden, wie die Gaskraftwerke. Und das Gas kommt aus Russland. Deswegen sage ich: Je mehr wir versuchen, das System durch Gaskraftwerke zu stabilisieren...

… desto abhängiger werden wir von Russland?

Ja, natürlich! Und die Lösung dieses Problems war, wir wollen Strom, der ja sehr kontinuierlich ist. Strom aus der Nukleartechnik wollen wir nicht wegen der Radioaktivität. Kohlestrom, der auch kontinuierlich ist, wollen wir nicht wegen CO2. Wir wollen Ökostrom, wir wissen aber, dass Ökostrom nicht immer zur Verfügung steht, also brauchen wir irgendwelche Kraftwerke, die dazwischen einspringen und nicht so viel CO2 ausstoßen. Natürlich, auch ein Gaskraftwerk stößt CO2 aus, aber nicht so viel wie ein Kohlekraftwerk. Vor allem lässt sich das schneller rauf- und runterfahren. So ein Kohlekraftwerk, da braucht man einen halben Tag oder einen Tag, bevor das rauf- und runtergefahren ist. Das ist sehr träge. Bei Gaskraftwerken können sie es innerhalb von ein paar Minuten machen.

Das Beispiel Krim führt uns vor Augen, dass wir uns auch nochmal überlegen sollten, ob das im Augenblick die richtige Methode ist, um unsere Energiesicherheit herzustellen. Man könnte natürlich sagen, dann müssen wir uns das Gas eben aus anderen Regionen der Welt holen, aber soweit sind wir nicht. Dafür müssen wir neue Pipelines bauen, und dafür brauchen wir diese Gasterminals. Aber da sind wir auch wieder am Anfang.

Oder uns mit Russland vertragen?

Ja, nur hat sich ja gezeigt, dass es vielleicht nicht so sinnvoll ist, sich nur von einem abhängig zu machen. Ökonomisch sollte mal das nicht tun und politisch auch nicht. Man sollte immer Alternativen haben. Und deswegen meine ich, in der Welt sollte nichts alternativlos sein. Sondern als guter Politiker, aber auch jemand, der in der Wirtschaft oder zum Beispiel in der Familie oder für sich persönlich Entscheidungen trifft, sollte man immer sagen: Es kann sein, dass ich mich irre. Habe ich denn noch eine zweitbeste Lösung? Nämlich den Plan B? Und wenn ich nur den Plan B habe, sollte ich nicht offen darüber reden. Aber ich würde nie Plan A anfangen unter normalen Umständen, wenn ich für den Fall eines Irrtums keine Rückfallposition habe.

Angela Merkel ist ja berühmt für alternativlose Politik. Hat sie etwa keinen geheimen Plan B?

Das sage ich als Politiker häufig, um Sachen durchzusetzen. Aber man sollte zumindest den Plan B im Hinterkopf haben.

Hat sie den?

Das wird sie nie sagen. Und das wird sie auch nie zugeben. Das würde ich von ihr auch überhaupt nicht verlangen, weil die öffentliche Diskussion über den Plan B den möglicherweise kaputt macht. Das ist wieder die Frage, ob man in der Politik alles sagen soll. Solche Dinge, also Alternativpläne, sollte man wirklich in der Schublade haben. Man soll die Schublade voll haben. Und ich hoffe sehr, dass in Berlin die Schubladen voll und nicht leer sind.

Aber wie kann ich das herausfinden? Wenn ich mal mit ihr rede und sie sagt: Das ist alternativlos, wie kann ich sie dazu bringen, dass sie ein bisschen die Schublade aufmacht?

Nein, das wäre unfair, es von ihr zu verlangen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Eurokrise: Darüber haben wir ja schon diskutiert, da gäbe es Währungsspekulationen und so weiter. Solche Dinge vertragen nicht in die Öffentlichkeit. Will man regieren, muss man Vertrauen haben. Und habt zunächst einmal das Vertrauen, dass die, die im Augenblick in Berlin die Entscheidungen treffen, klug genug sind, um zu wissen, dass man immer, wenn es eben geht, manchmal geht es eben nicht, auch eine Alternative B und besser noch C und D hat – für den Fall eines Irrtums. Die Dinge können sich ja auch mal anders entwickeln, nicht? Das Leben ist voller Überraschungen. Man muss dann reagieren können und sollte sich nicht sich nur auf eines festlegen. Deswegen finde ich, das ist eine ganz normale Verhaltensweise, die man im normalen Leben kennt. Was mache ich, wenn mein Plan nicht aufgeht? Nehme ich mir dann einen Strick? Das kann doch wohl nicht sein, nicht?

Ist das Merkels Schicksal?

Nein! Ich glaube, dass Frau Merkel klug genug ist, um zu wissen, dass es natürlich immer Alternativen gibt, die man aber möglicherweise im Augenblick nicht diskutieren will oder deren Diskussion möglicherweise auch schädlich wäre. Aber das Vertrauen muss ich in die Regierung haben, sonst darf ich sie nicht wählen.

Wann darf ich kein Vertrauen mehr in eine Regierung haben? Wann hat eine Regierung das Vertrauen verspielt?

Das ist eine subjektive Sache.

Aber du bist Politiker gewesen, du hast auch eine Regierung geführt.

Man sollte als Politiker wissen, dass Vertrauen ein ganz empfindliches Gut ist, mit dem man sorgfältig umgehen soll. Das heißt, man sollte vermeiden, die Unwahrheit zu sagen – zumindest dann, wenn einem die Öffentlichkeit schnell auf die Schliche kommt. Irgendwelche Prognosen abzugeben, die man schnell überprüfen kann und die dann sich möglicherweise als falsch herausstellen, das sollte man möglicherweise nicht machen. Deswegen habe ich gesagt, im Bereich der Finanzen muss man schon relativ ehrlich sein. Denn Zahlen kann man relativ schnell überprüfen. Es gibt andere Bereiche, die nicht so schnell quantifizierbar sind, zum Beispiel die Bildungspolitik. Ist eine Bildungspolitik gut, ist eine Bildungspolitik schlecht? Das ist schlechter zu messen. Da haben Sie mehr Freiheitsgrade bei der Interpretation. Beim Wirtschaftswachstum, da können Sie sagen, wie hoch ist das? 1,7, 2,0 und -0,3... Das können Sie miteinander vergleichen. Da ist es klar.

Das Zweite ist, man sollte als Politiker nicht Hoffnungen wecken, die man nicht erfüllen kann oder die man absehbar nicht erfüllen kann. Denn dann nachher zurückzurudern, ist schlimmer, als wenn man die Hoffnung nicht gemacht hätte. Deswegen soll man auch die Latte nicht zu hochlegen und sie dann anschließend unter dem Gelächter der Bevölkerung reißen.

Haben Schäuble und Merkel Hoffnungen geschürt oder haben sie eher gar keine gemacht?

Ich will jetzt nicht auf die aktuelle Politik eingehen. Ich will auf einen Zusammenhang hinweisen, der in Ostdeutschland am Anfang eine große Rolle gespielt hat, nämlich dass viele Leute die Möglichkeiten und die Chancen der wirtschaftlichen Erholung nach der Wiedervereinigung überschätzt haben. Insgesamt gesehen, kann man sagen, es ist gut gelaufen in den letzten 20, 25 Jahren. Aber die Hoffnungen waren größer, und es ist damit auch Vertrauen verspielt worden, möglicherweise nicht bewusst. Viele Politiker haben sich vielleicht auch nicht klargemacht, was alles notwendig ist und wie lange das dauert, dass man das eben nicht in ein paar Jahren hinbekommt. Und nach dieser großen Euphorie in 1990/91 mit der Wiedervereinigung kam ja auch eine tiefe Depressionsphase. Das sind solche Dinge, die man als Politiker vermeiden sollte. Man sollte nicht zu viel versprechen, nicht zu viel Optimismus verbreiten, sondern immer eine gewisse Form von Realismus an den Tag legen. Dann ist man immer auf der richtigen Seite.

Ich frage gerne Politiker: Was ist Macht? Was ist für dich Macht? Wie würdest du den jungen Menschen Macht erklären?

Macht ist die Fähigkeit, jemand anderen zu einer Handlung zu bewegen. Das ist sehr abstrakt diskutiert. Ich selber kann ja entscheiden, ich mach das und das und ich mach jenes. Macht bedeutet, dass ich auf die Entscheidung anderer Einfluss nehmen und sie in eine gewisse Richtung lenken kann. Nehmen wir meinetwegen das Strafgesetzbuch und sagen: Diebstahl verboten, und das wird bestraft, dann erreiche ich durch meine Macht eine Verhaltensänderung oder setze ein bestimmtes Verhalten durch, dass nämlich nicht geklaut wird. Durch Macht kann ich zwangsweise etwas gegen einen Dritten durchsetzen. Das ist die harte Macht der Polizei und so weiter.

Dann gibt es die mehr intellektuelle Macht: dass ich versuchen kann, durch Überzeugung oder Überredung Einfluss zu nehmen. Auch das kann Macht haben! Auch ein Schriftsteller hat in gewisser Weise Macht. Er hat kein Schießeisen oder auch keine Muckis, aber er hat die Worte. Es gibt diese harte Macht und diese "soft power". Das gibt es. Es ist aber immer wieder dasselbe, dass jemand in der Lage ist, das Verhalten anderer zu beeinflussen. So würde ich Macht definieren. Das ist sehr abstrakt, aber es haut bei den meisten Fällen des Machtgebrauches hin.

Unser Bundespräsident hat mehr "soft power" und die Kanzlerin hat "hard power"?

Ja. Aber die Politiker haben natürlich in großem Stile auch "soft power", weil sie durch den öffentlichen Diskurs und durch ihre Präsenz in den Medien Einfluss nehmen und auch Diskussionen beeinflussen. In einer Demokratie geht es ohne "soft power" nicht. Denn Demokratie heißt ja im Kern, man kann regieren mit einer Grundzustimmung der Betroffenen. Nicht, dass immer alle jeder Maßnahme zustimmen müssen, aber man kann auch nicht ständig gegen alle regieren. Das heißt, man braucht die Zustimmung. Und das ist der Unterschied zur Diktatur, da brauche ich auf die Bevölkerung und auf die Einzelnen keine Rücksicht zu nehmen. Das muss ich aber. Und deswegen ist in der Demokratie auch immer ein erheblicher Kern der Macht "soft power". Trotzdem brauchen Sie natürlich auch Regeln, die im Konfliktfall dann auch durchgesetzt werden. Notfalls mit der Polizei.

Danke schön, Georg Milbradt. Vielen Dank.

Transkript: Anne Julia Wirth, redigiert von Hans Hütt