Herr Kositzke, Sie lehren an der Universität Tübingen Rhetorik und befassen sich mit der Sprache und dem Auftreten von Politikern. Angela Merkel hat von den Ministerpräsidenten konstruktives Verhalten eingefordert. "Es reicht jetzt mit den unaufhörlichen Angriffen von Herrn Struck auf die Ministerpräsidenten der Union." Und: "Hier ist der SPD-Vorsitzende Kurt Beck gefordert". Kann man das als Machtwort bezeichnen?
Struck untersteht ihr als SPD-Fraktionsvorsitzender zwar nicht, dennoch könnte sie selbst in den Streit eingreifen. Stattdessen weicht sie mit dem Verweis auf Kurt Beck der Auseinandersetzung aus, sie verschiebt Verantwortung. Zudem ist die Formulierung, wie so oft bei Merkel, passivisch: Nicht sie fordert Beck auf - Beck ist gefordert, er ist es quasi irgendwie von selbst. Das wirkt unsicher.
Vor wenigen Tagen hat Merkel in einem Interview über Ihre Rolle als Kanzlerin gesagt: "Zum Schluss habe ich schon die Gesamtverantwortung und muss dann schon sagen, wo es langgeht". Lassen sich aus einer solchen Aussage rhetorische Schlüsse ziehen?
Sie sagt nicht: "Ich entscheide", "Ich bin die Kanzlerin". Sondern sie spricht geradezu entschuldigend von etwas, was sie tun müsse, wozu sie also gezwungen ist. Da sind wieder Unsicherheit und Zögern im ganzen Auftreten. Ein äußeres Signal dafür ist auch ihre Körperhaltung, dass sie die Oberarme sehr dicht am Körper hat. Bei Reden steht sie zu eng am Pult und hält sich oft auch daran fest. Das wird dann noch flankiert von missglückten Nachdrucksgesten. Merkels Faustgestik zum Beispiel ist nicht energisch, sondern ungeschickt. Wenn sie die Faust ballt, hält sie den Daumen in ihren Fingern versteckt. Dieses Moment des Unterdrückens ist bei ihr momentan stark ausgeprägt, nicht nur in der Gestik, auch in der Mimik, überall.
Bei "Maybrit Illner" hat Merkel jüngst auch Sätze gesagt wie: "Diese große Koalition hat zum Teil Partner mit unterschiedlichen Ansichten, aber wir haben eine gemeinsame Verpflichtung und auch eine gemeinsame Grundlage, die im übrigen auch gut funktioniert mit denen, mit denen ich zusammenarbeiten muss, und das heißt für dieses Land: Das Mögliche machen."
Das ist eine Taktik der Verschleierung: Da soll wirklich gar nichts Konkretes, Nachvollziehbares, Einklagbares ausgesagt werden. Wer Sätze wie die von Ihnen erwähnten bloß hört, hat große Mühe zu folgen - und reimt sich den Inhalt zuletzt irgendwie selber zusammen. Nur um das Ganze dann sofort auch wieder zu vergessen. Oder der Zuhörer gibt einfach auf, verstehen zu wollen, und gibt sich selbst die Schuld daran, dass er nicht folgen konnte.
Wenn Sie Merkels Auftreten während der Regierungskrise der vergangenen Wochen beurteilen: Halten Sie sie für führungsstark?
Sie wirkt immer unsouveräner. Man wundert sich, denn Merkel muss ja kommunikative Fähigkeiten und damit Führungsfähigkeiten haben - sonst wäre sie ja niemals in die Position gelangt, in der sie jetzt ist. Aber für den Beobachter ist es nun leider gar nicht zu sehen, worin diese Fähigkeiten liegen.
Sie redet inzwischen häufig in vagen Allgemeinplätzen. Die Aussagen sind beinahe völlig frei von Konkretem, um nur nichts Falsch zu sagen oder sich festlegen zu müssen. Sie sagt Sätze wie "Veränderung heißt, Neuland betreten" oder "Politik muss immer das Gesamte im Blick haben." "Eckpunkte" weisen bei Merkel "in die richtige Richtung". Das alles mag auf Beobachter witzig wirken, hat aber in vielen Fällen durchaus eine Funktion: eine Art sprachliche Flucht. Inhaltlich war Merkel zu Beginn ihrer Karriere ja noch um einiges klarer, also logisch und grammatisch stimmig - selbst wenn sie unbeholfener war.