Es ist die Meldung des Tages: Günther Oettinger hat widerrufen. Endlich. Im dritten Anlauf. In Berlin, mit den Händen der gestrengen Mutti Merkel auf den Schultern. Die geschwurbelte Erklärung vom Samstag hatte nicht gereicht, ebenso wenig das "Bild"-Interview vom Montag. Nichts hätte jemals gereicht, solange Oettinger die Behauptung hätte stehen lassen, Hans Filbinger sei ein Gegner des NS-Regimes gewesen. Diese historisch falsche Mär hat er jetzt zurückgezogen. Früh genug, um sein Amt zu retten, zu spät, um sein Gesicht zu wahren. Die Affäre der vergangenen Woche schadet Oettinger erheblich, weil sie ein schrilles Licht auf ein Maß an politischer Unfähigkeit wirft, wie es ein Politik-Profi im Range eines Ministerpräsidenten eigentlich nicht an den Tag legen darf. Oettingers Verhalten in der vergangenen Woche macht von hinten bis vorne schlicht keinen Sinn.
Oettinger hat den Stolperstein gesucht
Das wäre zum einen das kuriose Phänomen, dass hier einer ohne Not in einer Trauerrede ein Thema angepackt hat, an dem er sich eigentlich die Finger verbrennen musste, nämlich die Frage: Wie hat Filbinger es mit den Nazis gehalten? Oettinger hätte die Frage nicht stellen müssen. In der Kirche hätte er über Filbingers NS-Vergangenheit den Deckmantel des Schweigens breiten können, über sie hinweggehen. Er hätte ausschließlich den Ministerpräsidenten loben können, ohne zu dem delikaten historischen Sachverhalt Stellung zu beziehen. In einer Trauerrede wäre das entschuldbar gewesen, auch wenn er, wie schon zuvor, ob der Auslassung von mancher Stelle Kritik hätte ertragen müssen. Mit frappierenden historischen Unwahrheiten über Filbingers Biografie, das war von vorneherein klar, würde er jedoch nie und nimmer davonkommen. Im Gegenteil. Er würde einen Sturm der Entrüstung auslösen - und damit über einen Stolperstein fallen, der für die CDU-Politiker der Generation Wulff, Koch, Oettinger eigentlich leicht zu umgehen ist. Oettinger hat das nicht erkannt. Im Gegenteil. Er hat den Stein nahezu gesucht, über den er fallen konnte.
Warum hat er das getan?
Und damit sind wir beim zweiten Kuriosum. Warum hat er das getan? Zur Erklärung gibt es mindestens zwei Theorien. Die erste besagt, dass der Stuttgarter Liberale sich den ländlichen Konservativen seiner Partei mit ewiggestrigen Sprüchen an den Busen werfen wollte. Diese Theorie scheint wenig schlüssig. Zum einen muss ein Profi wie Oettinger wissen, dass ihm der Ruch der Rechtslastigkeit mittel- und langfristig mehr schadet als ihm kurzfristiger Beifall falscher Freunde nützt - das betrifft die Landes- und die Bundespolitik. Zum anderen scheint Oettinger definitiv keiner zu sein, der gern mal ein Tänzchen mit Rechtsauslegern wagt. Selbst die Grünen im Ländle bescheinigen ihm da eine weiße Weste. Die zweite Theorie besagt dagegen, dass Oettinger schlicht der Trauergemeinde gefallen wollte mit seiner geschichtsvergessenen Hymne auf Filbinger. Dem wiederum widerspricht die Tatsache, dass die Rede sehr genau vorbereitet war. Zudem weiß ein Ministerpräsident, dass seine Worte immer auch über den konkreten Anlass hinaus Widerhall finden. Zumindest müsste er das wissen.
Nicht zum Papst, sondern zu Mutti
Das dritte Kuriosum ist das Krisenmanagement Oettingers. Spätestens nach der Merkelschen Rüge muss er gespürt haben, dass er mit wachsweichen Dementis nicht davonkommen würde. Dennoch hat er sich tagelang gewunden und gewehrt, mit aller Macht versucht, dem schmachvollen Widerruf zu entkommen. Dabei hat er die Gewalt des anschwellenden Drucks falsch eingeschätzt. Zur Strafe fuhr er am Montag nicht zum Papst, sondern wurde wie ein bei einer Missetat ertappter Bengel von Mutti Merkel nach Berlin zitiert, um dort den Fehler einzugestehen und vor aller Augen Buße zu tun. Peinlicher geht es nicht.
Eine schlüssige Erklärung für das Verhalten Günther Oettingers in der vergangenen Woche hat wohl nur Günther Oettinger selbst. Klar ist schon jetzt, dass er sich mit seiner Trauerrede für Hans Filbinger einen Bärendienst erwiesen hat. Er hat nicht an Statur gewonnen, sondern der Eindruck eines CDU-Ministerpräsidenten hinterlassen, dem es nicht nur an Gespür für historische Zusammenhänge, gesellschaftliche Tabus und die Wirkung seiner Worte mangelt, sondern zudem an der Fähigkeit, Krisen klug zu bewältigen. Hätte Oettinger viel länger gewartet mit seiner eindeutigen Entschuldigung, hätte sein Lavieren ihn wahrscheinlich das Amt gekostet. So ist es nur um seinen Ruf geschehen. Mutti Merkel dagegen hat sich als entscheidungsstarke Erzieherin erwiesen. Das dürfte auch diesen Bub besonders wurmen.