Hallo, das waren aber mal zwei Überraschungen. Man kann sie in einem schlichten Satz zusammenfassen: Horst Köhler hat eine gute Rede gehalten.
Genau: Horst wer? Man hatte ja fast vergessen, dass es ihn gibt. Sicher, der Bundespräsident tourte unermüdlich durchs Land, schüttelte hier Hände und trug da vor. Meist ging dabei ein Allgemeinplatzregen auf seine Zuhörer nieder. Aufgefallen war Köhler deshalb schon lange nicht mehr, nicht einmal mehr negativ. Der erklärte Nicht-Politiker im höchsten Staatsamt war praktisch abgeschrieben. Experiment gescheitert.
Kontrastprogramm zu Merkels Selbstlob
Jetzt hat Köhler sich, ziemlich genau zur Hälfte seiner Amtszeit, zurückgemeldet. Allein das ist schon eine Überraschung. Und er hat eine im besten Sinne anstößige Rede gehalten. Das hätte man, Überraschung zwo, ihm nicht mehr zugetraut.
Just an dem Tag, an dem die großkoalitionäre Kanzlerin im Bundestag einen Kübel voller Selbstlob über ihre Regierung ausgoss, bot der von ihr ins Amt gehievte Präsident in Bochum das notwendige Kontrastprogramm. Von der Selbstzufriedenheit und Genügsamkeit der politischen Klasse, die zum Teil "geistig tief im 19. Jahrhundert verhaftet" ist, zunehmend genervt, beschrieb der Präsident schonungslos die Hauptmalaise unseres Landes: Wir geben zu viel Geld falsch aus und rauben damit vielen Menschen die Lebenschancen. Wir begnügen uns mit einem "unterfinanzierten Bildungswesen", das "bestenfalls Mittelmaß" ist. Wir leisten uns einen Sozialstaat, der "zwar teuer, aber nicht besonders wirkungsvoll" ist. Und wir empören uns über das Wort Unterschicht, aber nicht darüber, dass es wieder eine gibt.
Mäßig gezügelter Zorn
Horst Köhler sprach in Bochum mit nur mäßig gezügeltem Zorn. Sie kriegten alle was ab. Und zwar das, was sie verdienen. Die schalatarnerischen Rüttgersse aller Parteien (und der eine ganz besonders), die den Wählern "Dinge versprechen, die nicht gehalten werden können". Die Unternehmen und Manager, die "den Hals nicht voll kriegen" oder "ihre Mitarbeiter zu bloßen Bilanzposten herabwürdigen". Aber auch die Bürger selbst, die die Politik mit Wünschen und Erwartungen überfordern.
Ein Rundumschlag erster Güteklasse. Darf der das überhaupt? Aber ja, aber ganz sicher. Er muss es sogar. Genau dazu halten wir uns die Institution des Bundespräsidenten. Er soll Orientierung geben und Sicherheit. Und er soll die Politiker an ihre Verantwortung erinnern. Er hat dazu nur die Macht des Wortes. Nun endlich hat Horst Köhler einmal ein Machtwort gesprochen, ein mächtiges sogar. Viel zu spät, aber vielleicht nicht ganz vergebens. Man kann nur hoffen, dass es gehört wird, und zwar von allen Angesprochenen.
Ein Präsident, der Partei ergreift
Ein brillanter Vortragskünstler wird aus diesem Horst Köhler zwar nicht mehr werden. Aber vielleicht doch mehr als nur ein Grüßaugust für die Oberhäupter der restlichen Welt: ein prägender, ein politischer Präsident. Einer, der durchaus Partei ergreift: für die Bürger. Das wäre dann Überraschung Nummer drei - und die allergrößte.