Landtagswahl in Hessen Warum das Hessen-Chaos geil ist

Nirgendwo ist Politik spannender wie in Hessen. Die Landtagswahl bescherte den politischen Parteien eine anarchische Konstellation. Gewinner sind vor allem die Wähler. Ein Kommentar von Sebastian Christ.

Hessen ist Anarchie. Hessen ist geil. Der Wahlsonntag in Wiesbaden war ein Lehrstück dafür, wie spannend Politik sein kann. Erst jubeln die Sozialdemokraten, völlig fassungslos über die mögliche rot-grüne Mehrheit. Dann sorgen 3500 Stimmen Unterschied zur Union dafür, dass die gesamte Wahlkampftruppe in kollektive Betroffenheit verfällt. Bei der CDU war es genau anders herum. Erst spülten die Koch-Gehilfen ihren Frust über das miese Ergebnis runter, um dann schließlich über den Einzug der Linkspartei zu jubeln - weil so Rot-Grün endgültig verhindert wurde. Verkehrte Welt. Wer ist jetzt Gewinner, wer ist Verlierer?

Vor allem die Wähler stehen in Hessen auf der Siegerseite. Sie haben an einem Abend die höchstmögliche Anzahl an Backpfeifen verteilt. Die Linke ist im Parlament und darf demnächst für alle anderen Parteien als antikapitalistisches Korrektiv wirken. Koch muss wegen seines Wahlkampfs auf Strafexpedition, womöglich sogar in die Opposition. Die Grünen erhielten ebenfalls einen bösen Dämpfer. Und die Sozialdemokraten bekamen vermutlich auch deswegen nicht den Auftrag zur Regierungsbildung, weil sie in der Woche vor der Wahl Streitigkeiten über das Wahlprogramm öffentlich austrugen.

Adrenalin pur. Ein offenes Ende

Der gestrige Abend hat auch gezeigt, wie groß der Einfluss des Volkes auf die Politik sein kann. Dass alle Macht vom Volke ausgeht, steht zwar im Grundgesetz, doch in der Parteiendemokratie deutschen Typs hegen viele Menschen Zweifel daran. Das drückt sich nicht zuletzt in den sinkenden Stimmabgabequoten bei Landtagswahlen aus. Die hessische Politik dagegen hat wieder ein Stück Wahl-Hitchcock hervorgebracht, wie es eigentlich nur in diesem Bundesland gedreht werden kann. Die Kameras waren gestern dabei: Adrenalin pur. Ein offenes Ende. Wahl ohne prädestinierte Mehrheiten oder Fertig-Regierungen aus dem Setzkasten. Und am Montag danach verkaterte Köpfe auf allen Seiten, weil eigentlich niemand so recht weiß, wie es weiter geht.

Hessen gilt zwar seit den 80-er Jahren als "enges" Bundesland, doch nach 1999 wurde eine Landtagswahl jetzt schon zum zweiten Mal in letzter Sekunde per Ergebnisbekanntgabe durch den Landeswahlleiter entschieden. Diesmal mit besonders skurrilem Ergebnis: Alle politisch gewünschten Koalitionen sind unmöglich, und alle möglichen Konstellationen sind politisch unerwünscht. Das liegt, um es klar zu sagen, nicht nur am Einzug der Linken. Vielmehr konnten weder Andrea Ypsilanti noch Roland Koch eindeutige Mehrheiten für ihren Politikentwurf organisieren. Hätte die CDU beispielsweise noch einen ähnlichen Zuspruch wie vor fünf Jahren, dann würde sie sich kaum über den Wahlerfolg der Linken ärgern. Für die Sozialdemokraten gilt dasselbe: Ein ehemaliger hessischer SPD-Chef wie Holger Börner würde sich beim Blick auf die "sagenhaften" 36,7 Prozent im Grabe umdrehen. Es ist das zweitschlechteste Ergebnis, das die SPD je in Hessen bekommen hat.

Die Wähler zwingen nun alle Parteien, über ihre Fehler nachzudenken. Lösungen zu finden. Kompromisse zu schließen. Gelingt es den Parteien, ohne Glaubwürdigkeitsverlust einen Weg aus der vertrackten Konstellation zu finden, dann machen sie vor allem eines: Werbung für die Politik.