Noch dreimal müssen die Bürger in Nordrhein-Westfalen schlafen gehen, bevor sie wählen dürfen. Noch dreimal müssen auch die Berliner Partei-Bosse noch schlafen gehen, bevor sie am Sonntag vor die Kameras treten und eine herbe Niederlage eingestehen müssen - oder einen grandiosen Sieg. Die Termine der Wahlkämpfer werden immer dichter. Vor allem die Sozialdemokraten müssen noch viel Krach machen, um ihre Wähler zu den Urnen zu bewegen. Ungewöhnlich viele Wähler sind diesmal noch unentschlossen – Sozialdemokraten, wie viele vermuten.
Die Hoffnung der Sozialdemokraten
Und sie kämpfen. In guter, alter Manier, mit diesem schielenden Gemisch aus Klassenkampf und Konservatismus. Wie etwa in der Hagener Innenstadt. In einem kleinen Holzhäuschen haben sich die Sozialdemokraten postiert, in der Elberfelder Straße. Mit drei Frauen gehobenen Alters und einem Rentner, mit vielen Feuerzeugen, Luftballons, Kaffee aus roten Kannen und viel, viel Papier. Viele Interessenten gibt es nicht - aber immerhin mehr als bei der CDU, die ihren blauen Stand zwanzig Meter weiter aufgestellt hat.
Die Genossen setzen auf gesunden Volkszorn. Münteferings Kapitalisten-Schelte, die Sache mit den Heuschrecken, erläutert der SPD-Rentner, sei schlecht gewesen, weil sie zu spät gekommen sei. "Der hätte das viel früher sagen müssen", schimpft er. Und er gibt eine eindeutige Interpretation seines Kapitalismus-Problems zum Besten: "Die einen tun sich die Mücken hoch", sagte er "aber die anderen, die malochen, die sehen davon nix. So kann das nicht weitergehen."
Auch mit der Einführung des Euro hat er Riesenprobleme. "Die haben doch einfach die Währungszeichen ausgewechselt, aber den Preis gleich mal gelassen". "Nur die Leute kriegen nicht mehr Geld." Und überhaupt. Die "Zugereisten", sagt er, nehmen den deutschen Frauen nach der Babypause die Jobs weg, weshalb die es so schwer haben, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. Die "Zugereisten" übrigens, das sind Türken und Kasachen.
Rüttgers’ Auftritt bei den schwarzen Herren
In Hagen, da scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Während unten im Tal die Sozen gegen die Kapitalisten wettern, empfangen diese hoch oben, im etwa abgelegenen Stadtteil Hagen-Halden den CDU-Spitzenmann Jürgen Rüttgers – "ganz persönlich", wie es auf der Einladung heißt, die auch vorsieht, dass jeder Gast "ganz persönlich" mit ihm in Kontakt kommt. Für den Kandidaten ist das ein Heimspiel.
NRW-Tagebuch
Was bewegt Wähler und Wahlkämpfer vor Ort? Wo entscheidet sich das Schicksal von Rot-Grün in Düsseldorf? Bis Sonntag liefert stern.de-Mitarbeiter Florian Güßgen täglich Stimmungsberichte.
Draußen stehen die dicken Autos in gedeckten Farben, drinnen stehen viele Herren mit Nadelstreifen und Zweireiher an den Bistro-Tischen - "schwarze Herren" sind auch dabei, wie die Moderatorin verkündet: Mandatsträger der CDU. Insgesamt sind mehr als 100 Zuschauer gekommen, vielleicht sogar 2000. Kellner reichen Fingerfood. "Ganz persönlich", das bedeutet, dass Jürgen Rüttgers bei seinem Entrée fast jedem Anwesenden die Hand schüttelt und ein paar Worte wechselt –ganz im Stil eines Prince Charles, der in Wimbledon ein paar Takte mit den Balljungen spricht. "Ganz persönlich" bedeutet auch, dass Rüttgers eine blonde Moderatorin dabei hat, die gefällige Fragen stellt. Und auch seine Frau ist dabei, die dem Publikum den Privatmensch Rüttgers näher bringen soll.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Rüttgers spult an diesem Abend routiniert sein Programm herunter, gibt sich gelassen, und erzählt harmlose Details aus seinem Privatleben, die auch schon vorher alle kannten: Dass er in den Ferien gerne selbst Hand anlegt in seinem Haus, dass er früher, 1969, als ganz junger Wilder, in seinem Heimatort ein CDU-Plakat von der Kirche entfernt hat, dass er auf das gleiche Gymnasium ging wie Konrad Adenauer und überhaupt, dass er ein "Adenauer-Fan" ist, und, natürlich, "befreundet" mit Angela Merkel sei. Auch die Nutella-Geschichte gibt er zum Besten: outet sich als Fans der gekühlten Nuss-Nougat-Créme. Über dem Podium hängt eine Leinwand, auf die Fotos des Helden projiziert werden: Rüttgers an Bord eines Schiffes, Rüttgers in einer Gaststätte mit alten Herren beim Pils - als Rüttgers’ Ehefrau Monika auf das Podium gebeten wird, zeigen sie eine zeitlang Rüttgers mit der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan.
"Er ist kein ganz harter Typ"
Der Spitzenmann bleibt auch an diesem Abend persönlich schwer zu greifen. Er wirkt wie eine Fußballmannschaft, die in Führung liegt, und weiß, dass sie gewinnt, wenn sie keine gravierenden Fehler mehr macht. Rüttgers muss nicht mehr angreifen – aber vor allem darf er keine Angriffsfläche mehr bieten. In Sachfragen ist er gut informiert, selbst wenn sich jemand für Details des Energie-Einspeisungs-Gesetzes interessiert. Spannendere Themen - etwa, ob der CDU-Finanzexperte Friedrich Merz nicht doch eine Rolle in der Landespolitik spielen könnte, umgeht er.
Rüttgers spult sein Programm professionell herunter, aber der Funke zum Publikum springt nicht über. Auch nicht, als er den Kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger persifliert. "Er ist kein ganz harter Typ", sagt einer der Herren am Bistro-Tisch, lässt aber offen, ob das ein Vor- oder ein Nachteil ist. Und dann erzählt er von einem anderen Politiker, den er vor kurzem gesehen hat. Der sei beeindruckend gewesen, habe neunzig Minuten sachlich geredet, inhaltlich kompetent, mit klaren Meinungen, ohne die anderen unter der Gürtellinie anzugreifen. "Der Stoiber", raunt der Mann im dunkelblauen Anzug, "der war unschlagbar."