Viele können es sich heute schwer vorstellen, doch in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts galt die Hansestadt Hamburg als unumstrittene Modemetropole Deutschlands. Unten am Pöseldorfer Alsterufer tüftelte Jil Sander in ihrer weißen Villa an jenen Kollektionen, die sie in jenen Tagen weltberühmt machten. Wolfgang Joop, damals noch Inhaber seines Konfektionskonzerns mit dem Ausrufezeichen, hielt allabendlich im schicken Nobel-Italiener Osteria Due Hof und porträtierte die hübschesten Gäste auf Stoffservietten. Sogar Karl Lagerfeld war kurzzeitig zurückgekehrt, schwelgte auf der Veranda seiner Villa Jako skeptisch in Jugenderinnerungen.
Die Größen der Kreativszene kauften dennoch anderswo ein. Produktdesigner Peter Schmidt etwa, Ballett-Impresario John Neumeier, oder die Theatergiganten Peter Zadek und Claus Peymann, pilgerten in einen der Läden von Thomas i Punkt, um sich mit den distinguierten Kreationen unter dem Label "Omen" einzukleiden. Sogar die modeaffine spätere Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek soll eigens aus Wien eingeflogen sein, um den Modeladen im verwunschenen Hulbe-Haus an der Mönckebergstraße zu besuchen.

Auch heute tummeln sich genau dort die Fashion-Afficionados der Stadt, die Mode sieht freilich ganz anders aus, ist ja auch eben Mode. Doch einige Klassiker von "Omen" befinden sich immer noch im Repertoire. Darunter der Pulli mit dem Junkernamen "Jörg", zurzeit für rund 300 Euro im Sale zu erstehen. Es ist genau das Modell, das vor wenigen Tagen am slimfitten Kanzlerkörper in der Luftwaffen-Boeing zu Berühmtheit gelangt ist.
"Das Stück dürfte etwa sieben bis acht Jahre alt sein", sagt die Verkäuferin fachkundig. "Wir haben die Struktur des Stoffes in der Zwischenzeit leicht verändert." In den Regalen des Ladens ist es außerdem bloß in grellgelb zu finden. Was sich das Modelabel allerdings konstant bewahren konnte, ist seine Glaubwürdigkeit. Die Stücke sind auch deshalb so teuer – allein die Pullis beginnen bei 700 Euro – weil sie in der Stadt gefertigt werden, zu sozialen Bedingungen draußen in Rothenburgsort, wo gerade das nächste Zukunftsviertel der Stadt entsteht.
(Wer auf den Strickpulli-Spuren von Kanzler Scholz wandeln, dafür aber keine 300 Euro hinblättern möchte, sollte einen Blick auf dieses ähnliche Modell von s.Oliver werfen.)
Der Look der Sozialdemokratie
Doch zurück zu den großen Tagen von "Omen". Olaf Scholz war damals gerade zum Kreisvorsitzenden der SPD Altona gewählt worden, und galt allerhöchstens als hoffnungsvoller Jungstar der Hamburger Lokalpolitik. Die Kanzlerschaft des Hamburgers Helmut Schmidts lag um die 15 Jahre zurück, die Wahl der gebürtigen Hamburgerin Angela Merkel zur Regierungschefin war noch ein Jahrzehnt entfernt. Und niemand hätte damals auch nur einen Dollhouse-Dollar darauf verwettet, dass ausgerechnet der wortkarge Stadtteilpolitiker mit dem schütteren Lockenhaar ins Berliner Kanzleramt aufsteigen würde – das damals zudem noch eine Baustelle war.
Für Sozialdemokraten seines Schlags war die Zeit noch nicht gekommen, was auch an der eigenwilligen Tradition der Hamburger SPD lag, die bevorzugt intellektuelle Großbürger in Spitzenfunktionen entsandte. Der als Zeit-Herausgeber reüssierende Altkanzler Schmidt bestimmte noch den Diskurs in der Partei, wie auch sein Parteikollege, der frühere Bürgermeister und Ex-Bundesminister Klaus von Dohnanyi. Dessen Nachfolger Henning Voscherau beliebte über die wichtige Distinktion zwischen geborenen und gebürtigen Hamburgern zu referieren: erstere hätten mindestens ein Elternteil sowie ein Großelternteil, die bereits in der Hansestadt zur Welt gekommen sein mussten, zweitgenannte aber nur da geboren waren – und damit eigentlich "Quittjes", also bloß bessere Zugezogene.

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Die Hamburger SPD-Bürgermeister trugen noch Doppelreiher in Marineblau mit Goldknöpfen und einer von ihnen buhte und brüllte am Ende einer modernen Inszenierung der "Lulu" in den Schlussapplaus: "Man kann dieses Stück doch auch anständig spielen!" Omen zu tragen, war dazu geradezu oppositionell. Der Mann hinter der Marke "Omen", Thomas Friese, ein Gründer mit eigener und fast politischer Agenda, hatte das Unternehmen seit seiner Gründung ausgerechnet im Jahr 1968 dieses stets nachhaltig und lokal ausgerichtet. Auch die eingekauften Kollektionen waren immer modern und revolutionär, er war einer der ersten der das modische Potenzial von Sneakers kapierte, und errichtete auf Eigeninitiative an der Spaldingstraße Hamburgs erstes Skaterparadies. Es gibt eigentlich kein besseres Modelabel, als dieses, mit dem sich ein moderner Sozialdemokrat identifizieren könnte.
Olaf Scholz und die Mode
Doch fürs Erste prägte der Hang zum Elitären und Alteingesessenen die Hamburger Sozialdemokratie für weitere Jahre, machte sie vermutlich attraktiv und glaubwürdig für die hanseatische Oberklasse, und zugleich fürchterlich piefig. Was gleichzeitig für einen aufstrebenden Enddreißger wie Olaf Scholz, der als Baby aus Osnabrück mit seiner Familie an den Stadtrand von Hamburg gekommen war, deprimierend gewirkt haben muss.
Und doch waren es jene Jahre, in denen sich Hamburg veränderte – zumindest für eine gewisse Zeit. Die steilen Werbeagenturen, die coolen Lifestyle-Magazine (u. a. Tempo, Viva, Amica, Allegra, Max) die Modelagenturen, die Major Labels der Musikindustrie, die Bands der Hamburger Schule und des jungen Hip Hop wirkten aus Hamburg heraus, das deutsche MTV eröffnete in der Stadt. Und sie alle zusammen machten die Stadt mondän, schrill, modern und endlich so kosmopolitisch, wie man sich grundlos hier schon immer gewähnt hatte.
Beide Eltern des heutigen Kanzlers kamen als Mitarbeiter der Textilindustrie nach Hamburg, man darf also annehmen, dass der oft bieder wirkende heutige Kanzler mit einem gewissen Hang und Verständnis für Mode aufgewachsen ist. In einem Bühnengespräch mit dem Journalisten Moritz von Uslar "99 Fragen live" aus dem Jahr 2015 wird Scholz gefragt, ob es ihm eigentlich egal sei, ob seine Anzüge sitzen. Und Scholz, der zuvor einige Kilo verloren und sich ein neues sportliches Ich zugelegt hatte, reagierte deutlich angefasst. Wurscht ist es ihm also schon mal nicht.
Es bleibt natürlich trotzdem Kaffeesatzleserei und Küchentischpsychologie, daraus deuten zu wollen, wie der Kanzler nun in der Kanzlermaschine auf die Idee gekommen sein mag, den weitgeschnittenen Pulli der Marke Omen anzuziehen, um sich während des Langstreckenflugs an die Journalisten zu wenden. Nur eines steht fest: Es war authentischer, als sich schnell in ein Sakko zu werfen, bloß weil eine mitreisende Korrespondentin ein Handyfoto machen könnte.
Inhaltliche Punktlandung oder fehlgeleitete Debatte?
Der Twittersturm machte dem miesen Ruf des Mediums wieder einmal alle Ehre. "Kurz vor der Jogginghose" stand da zu lesen, "Schlabberlook" und Baumarkt-Look" – überheblich wie kenntnisfrei. Und letztendlich ist der Kleidungstil eines Sozialdemokraten in Führungsverantwortlichkeit ein Drahtseilakt. Das Beispiel Gerhard Schröders, der sich am Anfang seiner Kanzlerschaft für Starfotograf Peter Lindberg in sündteurem italienischen Patrizierzwirn inszenieren ließ, und fortan "Kaschmirkanzler" hieß, mahnt aus weiter Ferne.
Gleichzeitig kann und sollte man als Regierungschef nicht herumlaufen wie ein Juso-Vorsitzender. Die Garde der führenden Sozialdemokraten trägt seitdem Anzüge mit legerer Note, und achtet darauf, dass alles sozial verträglich und fair produziert wurde, im Idealfall im eigenen Land. So wie "Omen" eben. Auch der Siegeszug der Uhrenmarke Nomos aus Glashütte an sozialdemokratischen Armgelenken ist irgendwie so zu erklären. Produkte deutscher Arbeiter, zu halbwegs erklärbaren Preisen. In der Politik kann schließlich eine Rolex den empfindlichen Karriereknick bedeuten.
Sollte Olaf Scholz den "Omen"-Pulli mit Bedacht gewählt haben, um sich locker vor die mitreisende Presse zu stellen, wäre es inhaltlich eigentlich eine Punktlandung gewesen. Vermutlich aber hat er nicht nachgedacht, sondern darüber, was in den USA und nun in Russland politisch zu bewegen sein könnte. Denn worum es jetzt gehen muss, ist kein Look – sondern die Aussicht, Krieg zu verhindern.