Prozess Verführt, vergiftet und vergewaltigt

Die Leidenschaft für das Computerspiel "Everquest" führte sie zusammen - die arglose Schülerin und den wortgewandten Krankenpfleger. Jetzt wurde er verurteilt. Wegen versuchten Mordes und sexuellen Missbrauchs.
Von Kerstin Schneider

Als die Polizisten am 15. Januar dieses Jahres, es ist ein Sonntag, um 9.35 Uhr die kleine Dachwohnung in Düren bei Aachen stürmen, kommen sie gerade noch rechtzeitig. Im Bad, das abgedunkelt ist, flackern nur ein paar Teelichter. In der Wanne liegt ein zartes, dunkelhaariges Mädchen. Die 15-jährige Ina× ist nackt und kaum bei Bewusstsein. "Bitte helfen Sie mir, ich will nicht sterben", wimmert sie. Aus dem Hahn läuft Wasser in die fast randvolle Wanne. Ina droht zu ertrinken. Die Polizisten hieven sie aus dem Wasser. Ihre Beine knicken weg. Sie kann nicht laufen. Im Krankenhaus stellen die Ärzte später in ihrem Blut einen gefährlichen Medikamenten-Mix fest, der Ina völlig apathisch gemacht hat. Außerdem ist sie stark unterzuckert.

Noch in der Wohnung nehmen die Polizisten Marco R. fest. Der 29-jährige Krankenpfleger ist bis auf ein um die Hüften geschlungenes Handtuch ebenfalls nackt. Kurz zuvor hatte er einen Doppelselbstmord von sich und Ina in einem Forum des Internet-Rollenspiels "Everquest" angekündigt. "Ailias und Thara wird es mit sofortiger Wirkung nicht mehr geben, weil wir beide den Freitod gewählt haben." In der Wohnung stellen die Beamten Nacktfotos von Ina, Beruhigungsmittel und den Blutzuckersenker Insulin sicher. Die Räume sind völlig verwahrlost. Neben dem Bett liegen gebrauchte Kondome.

Das Urteil

Marco R. wurde vom Landgericht Aachen am 2. November zu zehn Jahren Haft verurteilt - wegen versuchten Mordes und sexuellen Missbrauchs. Außerdem darf Marco R. seinen Beruf als Krankenpfleger nie mehr ausüben. Sein Anwalt hat angekündigt, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

"Ich wollte Ina glücklich machen"

Jetzt steht Marco R. wegen versuchten Mordes, Körperverletzung und schweren sexuellen Missbrauchs vor dem Aachener Landgericht: ein kleiner Mann, unter-setzt mit teigigem Gesicht, der Brille und Schnauzbart trägt.

Marco R. soll die minderjährige Gymnasiastin über Jahre mit Beruhigungsmitteln gefügig gemacht und sie sexuell missbraucht haben. Als Ina drohte, ihn anzuzeigen, habe er das Mädchen, so die Staatsanwaltschaft, betäubt, ihm Insulin gespritzt und es in die Badewanne gelegt, wo Ina ertrinken oder an einem Zuckerschock sterben sollte. Um den Mord zu vertuschen, wollte Marco R. die Tat nach Ansicht der Ermittler als missglückten Doppelselbstmord tarnen, den er selbst überlebt hätte. Denn Marco R. hatte nur fünf Tabletten geschluckt.

"Ich habe immer nur ihr Gutes im Sinn gehabt", sagt der Krankenpfleger vor den Richtern. Er ist überdurchschnittlich intelligent und wortgewandt. Kinderarzt oder Chirurg wollte er werden. Doch er verließ vor dem Abitur das Gymnasium. "Ich habe immer nur Dinge getan, die Ina glücklich machen", wiederholt er. Auf seiner hohen Stirnglatze glänzt der Schweiß.

Marco R.s Zocker-Rolle: ein Prediger

Marco R. lernt sein späteres Opfer 1999 kennen. Er ist damals 23 Jahre alt und mit Inas Schwester Mona× zusammen. Schnell fasst die neunjährige Ina Vertrauen zum Freund ihrer großen Schwester.

Der hat nichts dagegen, wenn Mona Ina mit in die Wohnung bringt. Er spielt mit Ina am Computer "Everquest", ein Internet-Rollenspiel, das an Tolkiens "Der Herr der Ringe" erinnert und bei dem die Teilnehmer als Anhänger verschiedener "Rassen" und "Gilden" auf dem Planeten "Norrath" allerlei Abenteuer bestehen. Marco R. nennt sich "Thara" und spielt einen "Kleriker", der Tote zum Leben erwecken kann. Ina mimt einen "Ranger" namens "Ailias", der die Monster aus ihren Verstecken lockt. In dieser Zeit fängt Marco R. an, Ina Medikamente zu geben. Der Krankenpfleger erzählt dem Mädchen, die Tabletten seien "Aufputschmittel", die ihre Ausdauer beim Spiel steigern würden. Arglos schluckt das Kind die Tabletten.

Die Eltern verbieten den Kontakt

Ende 2002 trennen sich Mona und Marco. Ina ist inzwischen zwölf. Marco 26. Ina besucht den Ex-Freund ihrer Schwester regelmäßig. Denn bei ihm darf sie so lange und oft "Everquest" spielen, wie sie will. Marco hat extra für Ina einen zweiten Computer angeschafft.

Inas Eltern entgeht nicht, dass ihre Tochter Marco R. häufig besucht. Sie nehmen den Krankenpfleger zur Seite, warnen ihn, dass sich "aus dieser Freundschaft eine Teenager-Romanze entwickeln könnte", und bitten ihn, ihre Tochter seltener zu sehen. Als Marco R. sich nicht an die Abmachung hält, verbieten die Eltern ihrer Tochter den Kontakt.

Heimlich besucht Ina Marco R. weiter. Denn sie ist längst, wie sie später in ihrer Vernehmung zugibt, "süchtig nach 'Everquest'". Sie schwänzt die Schule; Marco R. fälscht für sie Entschuldigungsschreiben und ärztliche Atteste. Stundenlang sitzen Ina und Marco R. vor ihren Computern. "Norrath" wird für sie zum zweiten Zuhause. Wenn sie nicht spielen, chatten sie mit den Mitgliedern ihrer "Gilde", tüfteln Strategien aus, die sie per Mail diskutieren. Reale Kontakte pflegen Marco R. und Ina kaum noch.

Marco R. nähert sich über gefälschte Mails

Anfang 2004 bekommt Ina, inzwischen 14 und zu einem hübschen Mädchen mit langen, dunklen Haaren herangewachsen, eine E-Mail von einer Unbekannten namens "Frauke Vollmer". "Du denkst bestimmt, wer schreibt mir denn da? Ich hoffe, Du hast diese Mail nicht gelöscht, denn dann schaffe ich es nie, eine E-Mail-Freundin zu finden." Frauke schreibt, sie sei so alt wie Ina. Sie wohne in einem Nachbarort von Eggenfelden, dort, wo Daniel Küblböck zu Hause ist - Inas großer Schwarm. Auch Frauke interessiert sich für Internet-Rollenspiele.

Ina, die außer Marco R. kaum Freunde hat, freut sich und schreibt zurück. Was sie nicht ahnt: Marco R. hat "Frauke Vollmer" erfunden. Schnell wird der Briefwechsel vertraulich. "Frauke" schwärmt Ina vom Sex mit ihrem wesentlich älteren Freund Jan vor. "Ich sag's ja immer wieder, Männer zwischen 13 und 20 - würg." Ina wird neugierig und zeigt Fraukes Mails Marco R. Sein Plan geht auf. "Wenn du willst, können wir das gerne ausprobieren", sagt er.

Tagebücher kontrolliert

Ina lässt sich von Marco im Intimbereich streicheln und berichtet Frauke davon. Die ist begeistert. "Das ist ja wirklich toll!!! Sei froh, dass Du Deine Erfahrung mit Marco machen kannst, denn er wird Deine Gefühle ernst nehmen und spüren, wie weit er gehen kann und darf."

Doch Ina hat sich in einen Jungen aus ihrer Klasse verliebt. Mit einer Klassenkameradin will sie in die Stammdisco ihres Schwarms gehen, um den Jungen dort "zufällig" zu treffen. Marco R. weiß von diesem Plan. Denn er liest heimlich Inas Tagebuch, fängt ihre E-Mails ab. Unter dem Namen des Klassenkameraden schreibt Marco R. an Ina. "Ich habe nicht das geringste Interesse an Dir. Bitte sprich mich nicht auf diese Mail an. Tu so, als wäre nichts gewesen." Und so fährt Ina nicht in die Disco und lässt den Jungen fortan in Ruhe. Mehr und mehr zieht sie sich von ihren Klassenkameraden zurück, taucht mit Marco ab in die virtuelle Welt von "Norrath". Ganze Wochenenden, wenn Ina ihren Eltern erzählt, dass sie bei einer Freundin übernachtet, verbringen Marco R. und Ina auf "Norrath". Marco R. steigt zum "Gildenmeister" auf, Ina ist als "Ranger Ailias" immer an seiner Seite. Sie ist 14. Marco 28. Er sei ihr "Seelenverwandter", schreibt Ina den Mitgliedern ihrer "Gilde".

"Du bist sexsüchtig"

Immer häufiger gibt Marco R. ihr "Aufputschmittel". Arglos schluckt Ina die Tabletten. In Wirklichkeit sind es Beruhigungspillen. Die Medikamente klaut Marco R. in dem Krankenhaus, in dem er arbeitet. "Schleichend" steigert Marco R. die Dosis, wie er später vor Gericht zugibt. Er versorgt das Mädchen immer nur freitags oder samstags mit Tabletten, damit sie wieder klar ist, wenn sie am Sonntagabend zu ihren Eltern zurückkehrt.

Im späten Frühjahr 2004 gibt Marco R. Ina 15 Beruhigungstabletten. Ina fällt in einen Tiefschlaf. Laut Anklage vergewaltigt Marco R. das willenlose Mädchen. Ina wacht auf, erinnert sich nur schemenhaft. "Warum bin ich nackt", fragt sie Marco R. "Du bist heute Nacht über mich hergefallen, und ich habe mich drauf eingelassen. Konnte ja nicht ahnen, dass du es nicht willst", sagt der. Ina ist erschrocken. Der Krankenpfleger redet ihr ein, dass sie "sexsüchtig" sei und Medikamente brauche. "Ich werde deine E-Mail-Adresse an eine Beratungsstelle geben", sagt er.

Marco R. verliert den Job

Ina glaubt ihrem "Seelenverwandten". Sie vertraut ihm blind. Außerdem meldet sich kurz darauf tatsächlich eine "Ärztin vom Gesundheitsamt" namens "Dr. Reuter" bei ihr, ebenfalls per E-Mail. Wieder steckt Marco R. dahinter. Als "Dr. Reuter" empfiehlt er Ina, die Tabletten "ruhig zu nehmen". Wenn sie sich nicht an den nächtlichen Sex mit Marco erinnere, so rät ihr "Dr. Reuter", solle sie doch "bewusst" mit ihm verkehren, damit sie ihn "nicht mehr zur Nachtzeit attackiere". "Frau Dr. Reuter" äußert außerdem den Verdacht, dass Ina unter der Aufmerksamkeitsschwäche ADS leide. Nach dieser Diagnose ist das Mädchen "völlig verstört", wie es in den Gerichtsakten heißt. Brav schluckt Ina die Tabletten, die Marco R. ihr verordnet. Im Oktober 2004 wird Marco R. beim Diebstahl von Medikamenten erwischt und entlassen. Ohne Arbeit verbringt er noch mehr Zeit mit Ina am Computer.

Das letzte Mittel: die Selbstmorddrohung

Ende 2005 lernt Ina bei einem Chat von "Everquest-Freunden" einen Studenten aus Trier kennen. Die beiden telefonieren heimlich miteinander. Ina erzählt ihm, dass Marco R. ihr Medikamente gibt. Der Student will deren Namen wissen. Als sie Marco R. das nächste Mal besucht, steckt sie heimlich eine leere Tablettenschachtel ein. Der Student recherchiert im Internet. Alarmiert ruft er Ina an. "Das Medikament ist bekannt als Vergewaltigungsdroge. Damit werden die Mädchen in der Disco betäubt. Du musst zur Polizei gehen."

Marco R. ist nicht entgangen, dass Ina sich ihrem neuen Chat-Partner zugewandt hat. Am 11. Januar 2006 schreibt er Ina und droht mit Selbstmord. "Ich habe keine Arbeit. Ich habe keine Freunde. Bis auf Dich. Du bist der einzige Mensch, der es schaffen kann, mich auf die richtige Bahn zurückzubringen. Bitte versuche es nicht durch Kontaktentzug. Das halte ich nicht aus. Ich hatte heute Nacht schon die Spritze aufgezogen. Bitte hilf mir. Ich hab Dich lieb, nein, ich liebe Dich."

Wieder unter Medikamenten missbraucht

Zwei Tage später, es ist wieder Freitag, fährt Ina zu Marco. Sie will ihn zur Rede stellen. Doch es gibt noch etwas, das sie in die Wohnung des Krankenpflegers lockt, wie sie in ihrer Vernehmung zugibt. Ina will unbedingt "Everquest" spielen. Und wenn es das letzte Mal ist.

In der Wohnung von Marco R. kommt es zum Streit. Ina droht ihm mit der Polizei. Der Krankenpfleger beschwichtigt das Mädchen. Beide spielen "Everquest". Marco R. gibt Ina ein Glas Wasser mit "Aufputschmitteln". Ina trinkt. Die Staatsanwaltschaft erklärt ihr Verhalten damit, dass Ina "völlig lebensfremd" war und "vollständig unter dem Einfluss von Marco R." stand. Außerdem wollte sie offenbar nicht wahrhaben, dass ihr "Seelenverwandter" tatsächlich ein Vergewaltiger ist. Ina döst ein. Bis zu diesem Punkt decken die Aussagen sich.

Schemenhaft nimmt Ina wahr, dass Marco R. sie missbraucht. Sie habe versucht, sich zu wehren, sei aber erst in der Wanne richtig zu sich gekommen, sagt sie vor Gericht.

Schuld auf Ina geschoben

Marco R. behauptet dagegen, dass Ina plötzlich von Selbstmord gesprochen habe. "Wenn du mir nicht hilfst, mache ich es allein", soll das Mädchen gesagt haben. Er habe dann den Doppelselbstmord "inszeniert", um ihr Angst vor dem Sterben einzujagen und sie von einem Freitod abzuschrecken. Dass er Ina töten wollte, bestreitet Marco R. "Die Dosis hätte nie gereicht, sie war doch an die Medikamente adaptiert", sagt der Krankenpfleger im Fachjargon. Auffallend oft streicht er sich durch das schulterlange, dunkle Haar, blickt in die Runde, vergewissert sich seiner Wirkung. Insulin habe er dem Mädchen nicht gespritzt, beteuert er. Dass er Ina gefälschte E-Mails geschrieben hat, gibt Marco R. dagegen zu. "Ich wollte nur wissen, was in ihr vorgeht." Auch dass er der Minderjährigen über Jahre Psychopharmaka gegeben hat, räumt der Krankenpfleger ein. "Sie konnte beim Everquest-Spielen kein Ende finden. Ich wollte, dass sie ruhiger wird." Selbst die sexuellen Kontakte gesteht Marco R. "Aber die Initiative ging immer von Ina aus. Sie wollte experimentieren." Ina bestreitet das. Die Gutachterin hält ihre Aussage für glaubhaft. Dem Angeklagten bescheinigt sie dagegen "eine Tendenz zur Skrupellosigkeit" und hält ihn für voll schuldfähig.

Wieder bei "Everquest"

Dass Marco R. "große Schuld auf sich geladen hat", räumt auch sein Anwalt Marcus Weiß aus Düren ein. "Aber er wollte das Mädchen nicht töten. Er hat durch die Rollenspiele im Internet völlig den Bezug zur Realität verloren. Für ihn war das Ganze ein virtuelles Spiel." In der realen Welt steht für Marco R. viel auf dem Spiel. Allein wegen Körperverletzung und sexuellen Missbrauchs drohen ihm mehrere Jahre Haft. Wenn das Gericht der Anklage folgt, muss er möglicherweise sogar mit lebenslanger Haft rechnen.

Ina geht wieder regelmäßig zur Schule, will Abitur machen. Sie spielt noch immer "Everquest". Eine Woche nachdem die Polizei sie aus der Badewanne gerettet hatte, erschien "Ailias" wieder auf "Norrath". "Ich bin wieder da", schrieb sie an ihre "Gilde". "Gott sei Dank."

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