Am Dienstag wird er wieder im Blickpunkt stehen. In Magdeburg beginnt der Prozess gegen Halle-Attentäter Stephan B., der am 9. Oktober vergangenen Jahres versucht hat, in die Synagoge der Saale-Stadt einzudringen und dort ein Massaker unter den Gläubigen anzurichten. Nachdem er durch eine Holztür daran gehindert wurde, in das Gebäude zu gelangen, erschoss der damals 27-Jährige willkürlich zwei Menschen in Halle, verletzte und bedrohte weitere.
Die Frage nach dem Warum wird beim Verfahren in Magdeburg vor allem im Zentrum stehen: Warum entwickelt ein Mensch einen derartigen Hass auf Andersglaubende, auf das vermeintlich Fremde? Warum hat niemand etwas von der Radikalisierung des Täters gemerkt?

Forensische Psychiaterin über Anschlag von Halle
Vor dem Prozessauftakt sprach der stern mit der forensischen Psychiaterin Nahlah Saimeh über diese und andere Fragen – und auch über die Rolle des Rechtspopulismus für die Motivation von rechtsextremen Gewalttätern.
stern: Frau Saimeh, nach allem, was bekannt ist, lebte Stephan B. jahrelang völlig unauffällig und angepasst unter uns, um dann mitleidlos zuzuschlagen – er entspricht dem Prototyp des "einsamen Wolfes". Was geht in solchen Menschen vor?

Nahlah Saimeh
Die forensische Psychiaterin Dr. med. Nahlah Saimeh, Jahrgang 1966, studierte Humanmedizin in Bochum und Essen. Nach Tätigkeiten in mehreren Kliniken praktiziert sie inzwischen in Düsseldorf und lehrt an Universitäten. Seit 2000 tritt Saimeh als forensisch–psychiatrische Sachverständige in Gerichtsprozessen auf, zum Beispiel zum Fall der sogenannten Siegauen-Vergewaltigung und zum Foltermord von Höxter.
Nahlah Saimeh: Häufig sind Menschen, die solche Gewaltstraftaten im öffentlichen Raum begangen und sich einem extremistischen Gedankengut angeschlossen haben, extrem unzufrieden mit ihrer persönlichen Lebenssituation. Die Ideologie hinter den Taten ist oftmals gar nicht so strukturiert durchdacht. Die Täter ziehen gewisse Versatzstücke heran, ohne dass sie stringent einer Ideologie folgen. Sie sehen sich in ihrem Leben als gescheitert an, etwa bei der Partnersuche, im Beruf oder finanziell. Sie sind persönlich extrem frustriert. Die Unzufriedenheit wird auf ein Feindbild projiziert, das vermeintlich dafür verantwortlich ist. Die Ideologie bildet gewissermaßen den Überbau. Dadurch liegt der Grund für meinen Frust nicht bei mir, sondern bei Anderen und wenn ich die Anderen dann bekämpfe, bin ich die vermeintliche Ursache meiner Schwierigkeiten los.
Solche Täter begreifen sich also als Opfer?
Ja, in ihrer Vorstellung scheitern diese Menschen nicht an sich selbst, sondern an gesellschaftlichen Umständen, an denen das Feindbild schuld ist. Im konkreten Fall von Stephan B. geht es um Antisemitismus. Irgendwann fällt dann der Entschluss, sich gegen das Feindbild zu wehren und aktiv zu werden. Die Täter versprechen sich von ihrem Handeln, die Hoheit über das eigene Leben wiederzugewinnen, nach dem Motto: "Einer muss ja mal was tun."
Letztlich hat Stephan B. auch die Macht über andere "gewonnen", nämlich über Leben und Tod seiner Opfer entschieden …
Eine solche Entscheidung zu treffen verleiht mir als Täter Macht. Und dadurch dass die Taten in der Öffentlichkeit stattfinden, werden sie endlich wahrgenommen, während sie vorher diejenigen waren, die scheitern, nicht anerkannt oder nicht richtig wahrgenommen werden – das ändert sich mit dem Akt der Gewalt in einem lauten Schlussakkord. Auch wenn das das Ende des Lebens in Freiheit bedeutet.
Wie kann sich jemand vollkommen unbemerkt in diese Gedankenwelt begeben, sich derart radikalisieren? Auch der Täter von Halle hatte ja Familie, Bekannte, Kommilitonen, Nachbarn – also ein soziales Umfeld.
Mir sind auch andere Fälle bekannt, in denen sich im Kinder- oder Jugendzimmer unterm Bett beträchtliche Waffenlager befunden haben, ohne dass dort mal jemand nachgeschaut hätte. Solche Täter haben sich im Familienverbund gewissermaßen eine Terra incognita geschaffen. Keiner weiß, was hinter der Zimmertür abläuft …
… und erst recht nicht, was sich im Kopf abspielt?
In diesen Familien gibt es ausgesprochene und unausgesprochene Regeln der Distanzwahrung. Das Zusammenleben in diesen Haushalten ist häufig von Kommunikationsarmut geprägt. Wenn nicht viel gesprochen wird, kann man auch nur wenig über das Denken anderer Leute erfahren. Außerdem äußern sich Menschen nicht ausführlich zu ihren Ansichten, wenn sie im Umfeld gegebenenfalls auf Unverständnis stoßen. Dann hält man lieber den Mund und zieht sein Ding durch.

Inwiefern trägt auch die nicht existente Beziehung zu Frauen zur Radikalisierung bei? Stephan B. äußerte eine extreme Frauenverachtung, schien in seiner Männlichkeit gekränkt.
Für viele Menschen ist persönliches Glück an eine tragfähige Liebesbeziehung gebunden. Wenn sich dieser Wunsch nicht erfüllt, gibt es ein Spannungsfeld aus unerfüllter großer Sehnsucht und dem Umkippen dieser Sehnsucht in Wut. Man erlebt sein Unglück als innere Abhängigkeit von einer Gruppe von Menschen, die mit einem nichts zu tun haben wollen – hier Frauen. Das ist halt schwer zu ertragen. Verachtung befreit von dem Wunsch nach Nähe und stabilisiert das gestörte Männlichkeitsgefühl in hasserfüllter Abgrenzung zu den Frauen.
Stephan B. verbrachte stattdessen einen großen Teil seiner Zeit vor dem Computer. Welche Rolle spielt bei Radikalisierungsprozessen das Internet? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Radikalisierung?
Ich sehe keinen primären kausalen Zusammenhang. Das Internet ist vielmehr ein Tool für diese Art Täter. Sie können sich völlig anonym in eine Blase begeben und dort Dinge äußern, ohne irgendeine soziale Konsequenz zu erfahren. Aber das Internet ist natürlich nicht schuld daran, dass sich jemand radikalisiert, sondern es erleichtert die Entwicklung und erleichtert Gemeinschaftserleben. Der Kern dieser Gewaltstraftaten ist – wie schon angesprochen – sehr oft die persönliche Unzufriedenheit. Das Netz ist gewissermaßen die Bühne, auf der sich diese in einer destruktiven Weise weiterentwickeln kann.
Führt diese Blase dazu, dass Täter das Gefühl haben, im Namen einer schweigenden vermeintlichen Mehrheit zu handeln?
Ja, sie sehen sich als diejenigen, die endlich etwas gegen diese selbst definierte "Ungerechtigkeit" unternehmen. Das wertet das Selbstwertgefühl dieser Täter für kurze Zeit auf.
Spielen der Aufstieg des Rechtspopulismus und dessen Erzählungen von vermeintlicher Überfremdung und der angeblichen Verachtung der "schweigenden Mehrheit" durch die "politische Elite" eine Rolle für die Motivation dieser Täter?
Der Rechtspopulismus etabliert zumindest schrittweise ein Narrativ in der Gesellschaft und lotet Freiräume für extremistische Positionen aus. Mindermeinungen einer bestimmten Szene werden so im offiziellen politischen Diskurs salonfähig gemacht. Das kann eine Art Treibstoff für diese Täter sein, eine Rechtfertigungsfolie. Aber längst nicht jeder, der rechtsnationale Vorstellungen hat, wird zum Attentäter.
Stephan B. war bis zu seinem Anschlag polizeilich vollkommen unauffällig – können Sie sich erklären, dass er quasi aus dem Nichts sofort die höchste Eskalationsstufe erklimmt, nämlich Menschen ermordet?
So verblüffend finde ich das nicht. Er hatte eine explizite Tötungsabsicht. Den Morden muss also ein langer Prozess der Dehumanisierung vorausgegangen sein. Er hat anderen Menschen das Menschsein abgesprochen. Der Hass wird zur Triebfeder der Dehumanisierung. Das Feindbild wird gewissermaßen nur noch als irgendeine schädliche biologische Masse wahrgenommen. Der Zusammenbruch der Empathie hat also schon weit vor der Ausführung der Taten begonnen. Das ist allen extremistischen Ideologien gemein. Wenn Menschen gedanklich erst einmal so weit sind, ist es oftmals für sie nur noch ein kleiner Schritt bis zur Tatausführung. Manchmal können dann persönliche situative Niederlagen das Fass zum Überlaufen bringen und da man dem eigenen Leben keinen sonderlichen Wert mehr beimisst, kann man es auch für eine destruktive Sache opfern.