Als hätte auf seiner Stirn gestanden: Schlag mich", sagt seine Mutter. Irgendwann hatten sich alle in seiner Klasse auf Lukas eingeschossen, sogar die Mädchen. "Fette Sau!", riefen sie. Und: "Deine Klamotten sehen scheiße aus!"
Der Junge trug die "falschen" Sachen. No-Name-Zeug von Schlussverkauf und Wochenmarkt statt coole Teile von New Yorker oder Adidas. Wenn seine Mutter fragte, woher die blauen Flecken und Schürfwunden stammten, murmelte er nur: "Ich hab mich gestoßen." Die Lehrer, sagt Lukas, hätten weggeschaut. "Der Klassenlehrer sagte, geh zum Vertrauenslehrer. Der Vertrauenslehrer sagte, ich kümmere mich. Aber passiert ist nichts." Die Täter anzeigen? "Hätte nichts genutzt, die waren ja unter 14." Mehr als zwei Jahre lang ging das so.
Lukas wurde immer stiller - und immer dicker. Er stopfte Süßigkeiten in sich hinein, legte binnen zwei Jahren um 35 Kilo zu und wog mit 14 fast 100 Kilogramm. "Ein Frustfresser", sagt seine Mutter. Er brauchte ständig neue Kleider und neue Schuhe, weil die alten durchgelatscht waren. Seine Mutter kaufte Sonderangebote für 20 Euro. "Ich kann nicht 200 Euro für Turnschuhe ausgeben", sagt sie. "Und selbst wenn ich sie hätte, würde ich es nicht tun."
Frau Dude hat Multiple Sklerose und steife Knie, sie sitzt im Rollstuhl. Ihr Mini-Job als Projektbetreuerin und das Arbeitslosengeld bringen 1500 Euro ein. Die rollstuhlgerechte Wohnung kostet 900 Euro, 600 Euro müssen reichen für Essen, Kleidung, Versicherungen und den Rest des Lebens.
Lukas waren Marken egal.
Anpassen wollte er sich nicht, von der Schule abgehen auch nicht: "Ich dachte: Wenn andere schuld sind, warum soll ich dann gehen." Doch als ihn im Januar drei Jugendliche zusammengeschlagen hatten und er mit Platzwunden am Kopf und einem Schuhabdruck im Rücken nach Hause kam, rief die Mutter die Polizei.
Lukas besucht jetzt die neunte Klasse der Haupt- und Realschule im Hamburger Stadtteil Sinstorf, ein paar Kilometer von seiner alten Schule in Wilhelmsburg entfernt. In seiner Klasse gibt es keinen Kleiderterror. Denn alle tragen das Gleiche. Polohemden oder T-Shirts mit dezentem Logo der Schule auf der Brust, dunkelblau oder weiß, dazu Trainingsjacken mit Doppelstreifen am Ärmel, Kapuzen- oder weiche Fleecejacken. 25 Euro kostet die Jacke, 7 Euro ein T-Shirt. Das ist drin im Etat der Mutter. "Die neue Schule tut ihm gut", sagt sie.

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Auch seine Lehrerin Karin Brose trägt Blau-Weiß. Die Haupt- und Realschule Sinstorf gehörte vor fünf Jahren zu den Ersten, die Schulkleidung einführten, und ist dabei so konsequent wie keine andere Schule in Deutschland. "Viele Eltern melden ihr Kind deshalb bei uns an", sagt Schulleiter Klaus Damian. Schüler, die gegen den Dress-Code verstoßen, werden von Frau Brose ("Bist du farbenblind?") schon mal ins Büro des Schulleiters geschickt. "Es geht schließlich nicht, dass ein einzelner Vogel aus der Gemeinschaft ausschert", sagt ihr Schüler Samet. "Nein, das kann es nicht geben", sagt Frau Brose.
Einmal pro Schuljahr, am "Private Day", darf jeder in privaten Kleidern kommen, "um uns daran zu erinnern, wie es war", sagt Karin Brose. "Bunt" nennen ihre Schüler die Kleidung, die sie früher trugen. "Sieht aus wie an Fasching", sagt die dunkelhaarige Gülistan.
Üble Geschmacklosigkeiten habe sie früher erlebt, sagt Frau Brose, irgendwann habe sie dann die Nase voll gehabt von nackten Bäuchen und neckischen Pogrübchen über tiefer gelegten Jeans. "Der nächste Jahrgang kriegt bei mir eine Schuluniform", beschloss sie. Die Schüler ihrer Klasse waren nicht besonders begeistert über die erste Kollektion, grüne Sportpullover. "Frösche" lästerten Mitschüler anderer Klassen. Auch Kollegen rümpften zunächst die Nase. Schuluniform, das klang nach Strammstehen und Kratzstrümpfen. Deshalb strich Karin Brose das Wort aus ihrem Vokabular. "Mit Uniform hat das alles nichts zu tun." Sie spricht lieber von "Arbeitskleidung".
Es gibt 19 Modelle
für Jungs und 26 für Mädchen, Mützen und Schals inklusive. Hosen und Schuhe sind Privatsache. Die Basisausstattung kostet 80 Euro. Schüler reden bei der Auswahl neuer Teile mit. Sie werden jedes Jahr bei einer Modenschau mit "kleinem Catwalk" vorgestellt. In der Pausenhalle warten an einem Dienstagmorgen die neuen Fünftklässler mit ihren Eltern auf die Modenschau. Frau Brose spricht. "Die Schule ist nicht die Disco, die Schule ist ein Arbeitsplatz", sagt sie. Und: "Das hier ist kein Wunschkonzert, sondern wir tragen die Schulkleidung Tag für Tag."
Eine türkische Mutter ist irritiert. Ihre Tochter trägt rosa Schuhe, eine rosa Hose und ein weißes Handtäschchen zum rosa-grauen Kopftuch. "Ist Schulkleidung Pflicht?", fragt sie. Typisch, wird Karin Brose später im Lehrerzimmer sagen, "es sind immer die Schwächsten, die Marken brauchen, um sich zu profilieren".
Inzwischen berät die Pädagogin aus Hamburg viele Schulen. "Ich habe Anfragen von Bayern bis Schleswig-Holstein." Soeben ist ihr Ratgeber heraus- gekommen ("Schulkleidung ist nicht gleich Schuluniform", www.schulkleidung.com). Auf gerade mal zwei Dutzend schätzt sie die Zahl der staatlichen Schulen mit Einheitsdress, exakte Zahlen fehlen, weil jede Schule selbst darüber entscheidet und "manche, die sich interessieren, auch wieder abspringen". Doch nun hofft Karin Brose auf eine wachsende Lobby für ihr Thema in Hamburg. Die regierende CDU beschloss im Frühjahr, "die Einführung von einheitlicher Schulkleidung politisch voranzutreiben".
Bundespolitisch gibt es in dieser Sache längst die ganz große Koalition. Angela Merkel findet Schulkleidung gut und Gerhard Schröder, Gregor Gysi und Edmund Stoiber ebenso. Der CSU-Mann gratulierte der Realschule im oberbayerischen Haag zu "einem so mutigen Schritt", bevor man dort im September als erste in Bayern Schulkleidung eingeführt hatte - verbindlich für alle, die neu an die Schule kommen, freiwillig für die älteren Jahrgänge. Von Schülern selbst stammte die Idee, sagt Schulleiter Dieter Landthaler. "Die wollten keinen Laufsteg mehr für tief dekolletierte und bauchfreie Tussis bieten." Rechtlich bewegen sich die Schulen auf schmalem Grat. Denn zwingen dürfen sie keinen Schüler. Schulleiter Landthaler schließt deshalb mit den Eltern neuer Schüler eine Vereinbarung.
An den meisten Schulen ist Schulkleidung freiwillig - so wie an der Haupt- und Realschule im badischen Friesenheim. 80 Prozent der Eltern und 70 Prozent der Schüler waren für die Kleiderordnung. Schon am Tag der Einführung gab es mehr als 2000 Bestellungen, die Firma kam in Lieferschwierigkeiten. Auch viele Lehrer bestellten "Schulmode" mit selbst entworfenem Logo - wahlweise rot, gelb oder blau und aus Baumwolle "ohne Kinderarbeit" hergestellt, wie sie sich vom Lieferanten versichern ließen.
"Der Stress morgens vor dem Kleiderschrank erübrigt sich jetzt", sagt Lehrerin Leonie Hess. Die neue Regelung funktioniere allerdings nur, wenn die Kinder auch etwas mit ihrer Schule anfangen könnten, sagen die Lehrer in Friesenheim. Die Verpackung allein macht es nicht, die Inhalte müssen stimmen. Wer sich mit seiner Schule nicht identifizieren kann, will auch keine Werbung für sie laufen und sich peinliche Kommentare anhören müssen. "Eine Oma hat mich im Bus angesprochen, sie fände es total schrecklich, dass bei uns Schuluniformen Pflicht seien", sagt Christian, 16. Er habe ihr daraufhin erklärt, dass das gar nicht schrecklich sei und er die T-Shirts fast jeden Tag trage, weil sie ihm "ein Gefühl der Zusammengehörigkeit" gäben. "Und außerdem sehen sie ja gut aus."
Auf Zusammengehörigkeit setzen lange schon britische, amerikanische oder kanadische Schulen. Sie demonstrieren mit ihren Uniformen neben Bildungs- und Elitebewusstsein manchmal auch die finanzielle Potenz der Eltern. Uniform als Abgrenzung also. In Deutschland würde diese Art zur Schau gestellten Standesbewusstseins die Schüler eher ausgrenzen. "Die Schulkleidung wird auch bei uns kommen, aber man muss vorsichtig vorgehen", sagt Helmut Thiel von der Ganztagsschule Wolmirstedt bei Magdeburg. "Zwang widerspricht dem Anliegen." Allerdings wächst der Druck auf die Schulen, stärker auf ihre Außenwirkung zu achten: Die Schülerzahlen gehen zurück, der Kampf um die Kinder ist in vielen Regionen längst entbrannt. Da kann Werbung nicht schaden, und die besten Werbeträger sind die eigenen Schüler.
Dass Schulkleidung
tatsächlich etwas bringt, haben Psychologen der Universität Gießen ermittelt, die das Klassenklima in Hamburg-Sinstorf untersucht haben. Die neue Ordnung sorge nicht nur für ein "besseres Sozialklima", sondern auch für mehr Konzentration im Unterricht, fand der Wissenschaftler Oliver Dickhäuser mit einer Vergleichsuntersuchung heraus. In einer neuen Studie will Dickhäuser nun untersuchen, ob sie auch die Leistung verbessert.
Viele Schüler am katholischen Gymnasium im Schwarzwalddorf St. Blasien waren skeptisch. Knapp die Hälfte der Gymnasiasten sprach sich bei einer Umfrage gegen Schulkleidung aus. "Dafür gab es ja auch gute Gründe", sagt Pater Johannes Siebner, der Direktor des von Jesuiten geleiteten Kollegs. "Kleidung ist für Jugendliche eine Möglichkeit, sich auszudrücken." Sei die nicht mehr gegeben, werde der Markenterror eben verlagert "auf das Handy oder die Uhr", vermutete er anfangs. Doch dem ist nicht so. Selbst vehemente Gegner der Einheitskluft sagen, dass Schulkleidung das Markenbewusstsein deutlich schwäche. St. Blasien hat jetzt eine Schulkollektion. Freiwillig und sehr modern - gestreifte Rugby-Pullover und Poloshirts mit dem Schulwappen, "geeignet für den Alltag wie für den besonderen Anlass".
Die 400 Pullover, 47 Euro das Stück, also nicht billig, sind fast ausverkauft. "Eltern und Kinder sind glücklich damit", sagt Pater Johannes Siebner. Das Motto sei: Wenn schon Schulkleidung, dann richtig gute. "Manche Schulen kaufen billiges Zeug, und die Schüler fassen es dann nicht an", sagt Siebner. Die Schulkleidung liefert, diskret ohne Namenszug, eine Firma aus Schweden - eine noble Sportmarke.