Sexismus-Debatte Ein Tweet und seine Geschichte

  • von Ralf Klassen
Eine stern-Story hat eine Debatte über Sexismus losgetreten. Ein stern.de-Beitrag auf Twitter sorgt für eine ganz andere Welle, bis auf Seite 1 von "Bild". Die Geschichte eines Missverständnisses.

Donnerstagmorgen, gegen halb acht Uhr, mein Twitterdienst beginnt. Ich mache das seit 2009, ich schätze den direkten Kontakt mit Lesern und Usern, auch wenn manchmal die Emotionen hochkochen. Doch das, was seit einigen Stunden hier und auch auf Facebook los ist, hat es so noch nie gegeben. Um den Artikel, der unter anderem eine Begegnung zwischen FDP-Mann Rainer Brüderle und unserer Kollegin Laura Himmelreich schildert, ist ein heftiger Twittersturm entbrannt.

Dabei gibt es sowohl diejenigen, die das beschriebene Verhalten des FDP-Spitzenkandidaten kritisieren - als auch die anderen. Jene, die an @sternde gerichtet und unter dem Hashtag #bruederle Macho-Sprüche, frauenfeindliche Parolen und wüste Beleidigungen gegen Himmelreich und die stern-Redaktion insgesamt schicken.

Ich mache das, was wir auf Twitter regelmäßig tun: Ich versuche, in einen Dialog mit den Usern zu kommen, beantworte die nicht allzu schlimmen Tweets (krass beleidigende Beiträge lässt man erfahrungsgemäß am besten unkommentiert), stelle Gegenfragen, verweise auf weiterführende Beiträge auf stern.de, Kommentare des Chefredakteurs und so weiter. Hier mal ein Beispiel:

Jedoch: Es wird weiter gepöbelt, relativiert, den Frauen Schuld gegeben etc... Auf Twitter ist an diesem Donnerstag vormittag bereits zu erkennen, dass Laura Himmelreichs Geschichte weit jenseits des Falles Brüderle ein gesellschaftliches Problem freigelegt. Obwohl sich jetzt auch langsam die ersten Frauen (und unterstützende Männer) in die Debatte einschalten, ist der Tenor noch komplett von wütenden männlichen Usern bestimmt, oft anonym, erschreckend häufig aber auch mit vollem Namen. Auch mir persönlich bekannte Menschen sind dabei, von denen ich so etwas nie erwartet hätte. Um die FDP geht es hier schon lange nur noch am Rande.

Ich versuche, den Eindruck der vergangenen zwei Stunden und der vielen Tweets zusammenzufassen und schreibe: "Wir müssen es konstatieren: Die Partei der Chauvis, Grapscher und Herrenreiter kommt immer noch locker über 5 Prozent. #Brüderle".

Ich denke beim Schreiben nicht an die FDP, auch an keine andere Partei. Sondern an all jene Männer, die sich in Deutschland anmaßen, selbst zu bestimmen, welche ihrer Verhaltensweisen gegenüber Frauen akzeptabel sind und welche nicht. Schlösse man sie alle zusammen und ließe sie eine Partei gründen, dann läge die sicher über 5 Prozent. Den Hashtag #Brüderle verwende ich, weil die Debatte bei Twitter darunter läuft.

Gesendet.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Der Tweet wird sehr schnell von vielen Twitter-Usern "retweetet" (weitergeleitet) oder "favorisiert" (gelobt), Kommentare darauf kommen aber zunächst fast gar nicht. Erst rund eine halbe Stunde später, die Debattenkultur um das Thema hat sich nicht beruhigt, fragt ein User nach, offensichtlich empört. Ich bemerke erstmals, wie missverständlich der Tweet ist und antworte:

Wieder passiert längere Zeit nichts, dann aber meldet sich FDP-Generalsekretär Patrick Döring zu Wort:

Seufz. Nein, welchen Sinn sollte es machen, die gesamte FDP zu beschimpfen? Ich antworte also:

Darauf reagiert Döring zunächst nicht mehr.

Nun aber wird das Problem sehr schnell größer. Immer mehr User regen sich heftig über unseren Tweet auf, immer wieder wird unterstellt, wir würden die FDP damit kollektiv angreifen. Dass bei vielen, die sich besonders über uns ereifern, das Twitterprofil eine Mitgliedschaft oder Funktion in der FDP ausweist, macht es für uns nicht besser: Denn auch neutrale und wohlmeinende User verstehen den Tweet nicht. Ein Teil des Problems habe ich mir also selbst eingebrockt.

Okay, für Twitter gilt das, was im gesamten Netz gilt: Hat man mit seinen Beiträgen Fehler gemacht oder sich unklar ausgedrückt, löscht man den Beitrag nicht (es sei denn, er ist justiziabel) - man stellt klar, versucht zu erklären, entschuldigt sich. Genau das mache ich jetzt, es ist Donnerstagabend, auch unterstützt von anderen Kollegen. In Dutzenden von Tweets, teilweise direkt als Reaktion auf User-Vorwürfe, teilweise allgemein.

Viele Twitter-User verstehen die Erklärung, nehmen die Entschuldigung an, darunter auch FDP-Mitglieder. Döring reagiert süffisant-skeptisch:

Es ist schlimm. Den ganzen Freitag über versuchen wir weiter, den "Grapscher"-Tweet zu erläutern, entschuldigen uns für die Missverständlichkeit – landen aber bei den Hardcore-Beschimpfern damit nicht. Der Tweet dient längst auch als Kampfmittel.

Am Freitagabend entspannt sich die Lage doch etwas. Alles kommt zurück auf den wahren Kern, Sexismus im Alltag. Dann aber kommt "Bild". Unser Tweet landet auf Seite 1 der Boulevard-Zeitung. Unser Tweet und die erste harsche Reaktion von FDP-General Döring. Mit keinem Wort erwähnt werden: Alle unsere Tweets, die klarstellen, dass es sich um ein Missverständnis handelt. (Später am Sonnabend ergänzt "Bild" in seiner Onlineausgabe den Bericht um unsere Klarstellung.)

Der Autor Ralf Klassen ist stellvertretender Chefredakteur von stern.de.